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Full text of "Massenpsychologie und Ich-Analyse"

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MASSENPSYCHOLOGIE 

UND 

ICH-ANALYSE 



PROF. SIGM. FREUD 



INTERNATIONALER 

PSYCHOANALYTISCHER VERLAG G. M. B. H. 

LEIPZIG TIEN ZORICH 

im 



Alle Rechte, besonders das der Obersetzuns^ in alle Spradien» vtM'behalten. 
Copyrijfht 1^1 by „IntematioBaler Psychoanalytischer Verlag-, Ges. m. b. H." Wien. 



Gesellschaft für graphische Industrie, Wien III. 



Inhalt. 

I. Einleitung 1 

IL Le Bon's Schilderung der Massenseele ... 5 

III. Andere Würdigungen des kollektiven Seelen- 
lebens 25 

IV. Suggestion und Libido 37 

V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer . . 46 
VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen ... 57 

VII. Die Identifizierung 66 

VIII. Verliebtheit und Hypnose 78 

IX. Der Herdentrieb 89, 

X. Die Masse und die Urhorde 100 

XI. Eine Stufe im Ich 112 

XII. Nachträge 122 



I. 

Einleitung. 

Der Gegensatz von Individual- und Sozial- oder 
Massenpsychologie, der uns auf den ersten Blick 
als sehr bedeutsam erscheinen mag, verliert bei ein- 
gehender Betrachtung sehr viel von seiner Schärfe. 
Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen 
Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen 
Wegen derselbe die Befriedigung seiner Trieb- 
regungen zu erreichen sucht, allein sie kommt da- 
bei nur selten, unter bestimmten Ausnahmsbedin- 
gungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses 
Einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im 
Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig 
der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und 
als Gegner in Betracht und die Individualpsycho- 
logie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig 
Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber diu-ch- 
aus berechtigten Sinne. 



2 Massenpsychologie und Ich-Analyse 

Das Verhältnis des Einzelnen zu seiilen Eltern 
und Geschwistern, zu seinem Liebesobjekt und zu 
seinem Arzt, also alle die Beziehungen, welche bis- 
her vorzugsweise Gegenstand der psychoanalytischen 
Untersuchung geworden sind, können den Anspruch 
erheben, als soziale Phänomene gewürdigt zu wer- 
den, und stellen sich dann in Gegensatz zu gewissen 
anderen, von uns narzißtisch genannten Vor- 
gängen, bei denen die Triebbefriedigung sich dem 
Einfluß anderer Personen entzieht oder auf sie ver- 
zichtet. Der Gegensatz zwischen sozialen und nar- 
zißtischen — Bleuler würde vielleicht sagen: 
autistischen — seelischen Akten fällt also 
durchaus innerhalb des Bereichs der Individual- 
psychologie und eignet sich nicht dazu, sie von 
einer Sozial- oder Massenpsychologie abzutrennen. 

In den erwähnten Verhältnissen zu Eltern und 
Geschwistern, zur Geliebten, zum Freunde und zum 
Arzt erfährt der Einzelne immer nur den Einfluß einer 
einzigen oder einer sehr geringen Anzahl von Per- 
sonen, von denen eine jede eine großartige Bedeu- 
tung für ihn erworben hat. Man hat sich nun ge- 
wöhnt, wenn man von Sozial- oder Massenpsycho- 
logie spricht, von diesen Beziehungen abzusehen 
und die gleichzeitige Beeinflussung des Einzelnen 



I. Einleitung 3 

durch eine große Anzahl von Personen, mit denen 
er durch irgend etwas verbunden ist, während sie 
ihm sonst in vielen Hinsichten fremd sein mögen, 
als Gegenstand der Untersuchung abzusondern. 
Die Massenpsychologie behandelt also den einzelnen 
Menschen als Mitglied eines Stammes, eines Volkes, 
einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als 
Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu einer 
gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur 
Masse organisiert. Nach dieser Zerreißung eines 
natürlichen Zusammenhanges lag es dann nahe, die 
Erscheinungen, die sich unter diesen besonderen Be- 
dingungen zeigen, als Äußerungen eines besonderen, 
weiter nicht zurückführbaren Triebes anzusehen, des 
sozialen Triebes — herd instinct, group mind — der 
in anderen Situationen nicht zum Ausdruck kommt. 
Wir dürfen aber wohl den Einwand erheben, es 
falle uns schwer, dem Moment der Zahl eine so 
große Bedeutung einzuräumen, daß es ihm allein 
möglich sein sollte, im menschlichen Seelenleben 
einen neuen und sonst nicht betätigten Trieb zu 
wecken. Unsere Erwartung wird somit auf zwei 
andere Möglichkeiten hingelenkt: daß der soziale 
Trieb kein ursprünglicher und unzerlegbarer sein 
mag, und daß die Anfänge seiner Bildung in einem 



4 Massenpsycholoste und Ich-Analyse 

engeren Kreis wie etwa in dem der Familie gefunden 
werden können. 

Die Massenpsychologie, obwohl erst in ihren 
Anfängen befindlich, umfaßt eine noch unüberseh- 
bare Fülle . von Einzelproblemen und stellt dem 
Untersucher ungezählte, derzeit noch nicht einmal 
gut gesonderte Aufgaben. Die bloße Gruppierung 
der verschiedenen Formen von Massenbildung und 
die Beschreibung der von ihnen geäußerten psy- 
chischen Phänomene erfordern einen großen Auf- 
wand von Beobachtung und Darstellung und haben 
bereits eine reichhaltige Literatur entstehen lassen. 
Wer dies schmale Büchlein an dem Umfang der 
Massenpsychologie mißt, wird ohneweiters ver- 
muten dürfen, daß hier nur wenige Punkte des 
ganzen Stoffes behandelt werden sollen. Es werden 
wirklich auch nur einige Fragen sein, an denen die 
Tiefenforschung der Psychoanalyse ein besonderes 
Interesse nimmt. 



IL 
Le Bon's Schilderung der Massenseele. 

Zweckmäßiger als eine Definition voranzu- 
stellen scheint es, mit einem Hinweis auf das Er- 
scheinungsgebiet zu beginnen und aus diesem einige 
besonders auffällige und charakteristische Tatsachen 
herauszugreifen, an welche die Untersuchung an- 
knüpfen kann. Wir erreichen beides durch einen 
Auszug aus dem mit Recht berühmt gewordenen 
Buch von Le Bon, Psychologie der 
Massen *. 

Machen wir uns den Sachverhalt nochmals klar: 
Wenn die Psychologie, welche die Anlagen, Trieb- 
regungen, Motive, Absichten eines einzelnen Men- 
schen bis zu seinen Handlungen und in die Bezie- 
hungen zu seinen Nächsten verfolgt, ihre Aufgabe 
restlos gelöst und alle diese Zusammenhänge durch- 
sichtig gemacht hätte, dann fände sie sich plötzUch 

♦ ÜbejTsetzt von Dr. Rudolf Eisler, zweite Atiiflage 1912. 



\ 



6 Massenpsychclogie und Ich-Analyse 

vor einer neuen Aufgabe, die sich ungelöst vor ihr 
erhebt. Sie müßte die überraschende Tatsache er- 
klären, daß dies ihr verständlich gewordene Indi- 
viduum unter einer bestimmten Bedingung ganz an- 
ders fühlt, denkt und handelt, als von ihm zu er- 
warten stand, und diese Bedingung ist die Einrei- 
hung in eine Menschenmenge, welche die Eigen- 
schaft einer „psychologischen Masse" erworben hat. 
Was ist nun eine „Masse", wodurch erwirbt sie die 
Fähigkeit, das Seelenleben des Einzelnen so ent- 
scheidend zu beeinflussen, und worin besteht die 
seelische Veränderung, die sie dem Einzelnen auf- 
nötigt? 

Diese drei Fragen zu beantworten, ist die Auf- 
gabe einer theoretischen Massenpsychologie. Man 
greift sie offenbar am besten an, wenn man von der 
dritten ausgeht. Es ist die Beobachtung der ver- 
änderten Reaktion des Einzelnen, welche der Massen- 
psychologie den Stoff liefert; jedem Erklärungsver- 
such muß ja die Beschreibung des zu Erklärenden 
vorausgehen. 

Ich lasse nun Le Bon zu Worte kommen. 
Er sagt (S. 13): „An einer psychologischen Masse 
ist das Sonderbarste dies: welcher Art auch die sie 
zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie ahn- 



IL Lt Bon's SchiWerung der Massenseele 7 

lieh oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung, 
ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den 
bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse be- 
sitzen sie eine Kollektivseele, vermöge deren sie in 
ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, 
als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und han- 
deln würde. Es gibt Ideen und Gefühle, die nur 
bei den zu Massen verbundenen Individuen auf- 
treten oder sich in Handlungen umsetzen. Die psy- 
chologische Masse ist ein provisorisches Wesen, das 
aus heterogenen Elementen besteht, die für einen 
Augenblick sich miteinander verbunden haben, 
genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre 
Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen 
Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden." 
Indem wir uns die Freiheit nehmen, die Dar- 
stellung L e B o n's durch unsere Glossen zu unter- 
brechen, geben wir hier der Bemerkung Raum: 
Wenn die Individuen in der Masse zu einer Einheit 
verbunden sind, so muß es wohl etwas geben, was 
sie an einander bindet, und dies Bindemittel könnte 
gerade das sein, was für die Masse charakteristisch 
ist. Allein L e B o n beantwortet diese Frage nicht, 
er geht auf die Veränderung des Individuums in der 
Masse ein und beschreibt sie in Ausdrücken, welche 



8 Mass€inpsycholosie und Ich-iAnalyse « 

mit den Grundvoraussetzungen unserer Tiefen- 
psychologie in guter Übereinstimmung stehen, 

(S. 14.) ;,Leicht ist die Feststellung des Maßes 
von Verschiedenheit des einer Masse angehörenden 
vom isolierten Individuum, weniger leicht ist aber 
die Entdeckung der Ursachen dieser Verschiedenheit. 

Um diese Ursachen wenigstens einigermaßen 
zu finden, muß man sich zunächst der von der 
modernen Psychologie gemachten Feststellung er- 
innern, daß nicht bloß im organischen Leben, son- 
dern auch in den intellektuellen Funktionen die un- 
bewußten Phänomene eine überwiegende Rolle spie- 
len. Das bewußte Geistesleben stellt nur einen recht 
geringen Teil neben dem unbewußten Seelenleben 
dar. Die feinste Analyse, die schärfste Beobachtung 
gelangt nur zu einer kleinen Anzahl bewußter 
Motive des Seelenlebens. Unsere bewußten Akte 
leiten sich aus einem, besonders durch Vererbungs- 
einflüsse geschaffenen, unbewußten Substrat her. 
Dieses enthält die zahllosen Ahnenspuren, aus denen 
sich die Rassenseele konstituiert. Hinter den ein- 
gestandenen Motiven unserer Handlungen gibt es 
zweifellos die geheimen Gründe, die wir nicht ein- 
gestehen, hinter diesen liegen aber noch geheimere, 



II. Le Boa*s Schlklenmg der Massenseele 9 

die wir nicht einmal kennen. Die Mehrzahl unserer 
alltäglichen Handlungen ist nur die Wirkung ver- 
borgener, uns entgehender Motive." 

In der Masse, meint L e Bon, verwischen sich 
die individuellen Erwerbungen der Einzelnen, und 
damit verschwindet deren Eigenart. Das rassen- 
mäßige Unbewußte tritt hervor, das Heterogene ver- 
sinkt im Homogenen. Wir werden sagen, der psy- 
chische Oberbaii, der sich bei den Einzelnen so ver- 
schiedenartig entwickelt hat, wird abgetragen, und 
das bei allen gleichartige unbewußte Fundament 
wird bloßgelegt. 

Auf diese Weise käme ein durchschnittlicher 
Charakter der Massenindividuen zustande. Allein 
L e B o n findet, sie zeigen auch neue Eigenschaften, 
die sie vorher nicht besessen haben, und sucht den 
Grund dafür in drei verschiedenen Momenten. 

(S. 15.) „Die erste dieser Ursachen besteht darin, 
daß das Individuum in der Masse schon durch die 
Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher 
Macht erlangt, welches ihm gestattet. Trieben zu 
fröhnen, die es allein notwendig gezügelt hätte. Es 
wird dies nun umso weniger Anlaß haben, als bei 
der Anonymität und demnach auch Unverantwort- 



10 Massenpsyohologie und Ich-Analyse 

lichkeit der Masse das Verantwortlichkeitsgefühl, 
welches die Individuen stets zurückhält, völlig 
schwindet." 

« 

Wir brauchten von unserem Standpunkt we- 
niger Wert auf das Auftauchen neuer Eigenschaften 
zu legen. Es genügte uns zu sagen, das Individuum 
komme in der Masse unter Bedingungen, die ihm 
gestatten, die Verdrängungen seiner unbewußten 
Triebregungen abzuwerfen. Die anscheinend neuen 
Eigenschaften, die es dann zeigt, sind eben die 
Äußerungen dieses Unbewußten, in dem ja alles 
Böse der Menschenseele in der Anlage enthalten ist; 
das Schwinden des Gewissens oder Verantwortlich- 
keitsgefühls unter diesen Umständen macht unserem 
Verständnis keine Schwierigkeit. Wir hatten längst 
behauptet, der Kern des sogenannten Gewissens sei 
„soziale Angst". 

Eine gewisse Differenz zwischen der Anschauung 
Le Bon's und der unserigen stellt sich dadurch her, 
daß sein Begriff des Unbewußten nicht ganz mit dem 
von der Psychoanalyse angenommenen zusammenfällt. 
Das Unbewußte L e B o n's enthält vor allem die tiefsten 
Merkmale der Rassenseele, welche für die Psychoanalyse 
eigentlich außer Betracht kommt. Wir verkennen zwar 
nicht, daß der Kern des Ichs, dem die „archaische Erb- 
schaft" der Menschenseele angehört, imbewußt ist, aber 
wir sondern außerdem das „unbewußte Verdrängte" ab, 



II. Le Boii*s Schildemns der Massenseele 11 

welches aus einem Anteil dieser Erbschaft hervorgegan- 
gen ist. Dieser Begriff des Verdrängten fehlt bei L e B o n. 

(S. 16.) „Eine zweite Ursache, die Ansteckung, 
trägt ebenso dazu bei, bei den Massen die Äußerung 
spezieller Merkmale und zugleich deren Richtung zu 
bewerkstelligen. Die Ansteckung ist ein leicht zu kon- 
statierendes aber unerklärliches Phänomen, das man 
den von uns sogleich zu studierenden Phänomenen 
hypnotischer Art zurechnen muß. In der Menge ist 
jedes Gefühl, jede Handlung ansteckend, und zwar 
in so hohem Grade, daß das Individuum sehr leicht 
sein persönliches Interesse dem Gesamtinteresse 
opfert. Es ist dies eine seiner Natur durchaus ent- 
gegengesetzte Fähigkeit, deren der Mensch nur als 
Massenbestandteil fähig ist.^' 

Wir werden auf diesen letzten Satz später eine 
wichtige Vermutung begründen. 

(S. 16.) „Eine dritte, und zwar die wichtigste 
Ursache bedingt in den zur Masse vereinigten In- 
dividuen besondere Eigenschaften, welche denen des 
isolierten Individuums völlig entgegengesetzt sind. 
Ich rede hier von der Suggestibilität, von der die 
erwähnte Ansteckung übrigens nur eine Wirkung ist. 

Zum Verständnis dieser Erscheinung gehört die 
Vergegenwärtigung gewisser neuer Entdeckungen 



12 Massenpsychologie und IchnAnalyse 

der Physiologie. Wir wissen jetzt, daß ein Mensch 
mittels mannigfacher Prozeduren in einen solchen 
Zustand versetzt werden kann, daß er nach Verlust 
seiner ganzen bewußten Persönlichkeit allen Sug- 
gestionen desjenigen gehorcht, der ihn seines Per- 
sönlichkeitsbewußtseins beraubt hat, und daß er die 
zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in 
schärfstem Gegensatz stehenden Handlungen begeht. 
Nun scheinen sehr sorgfältige Beobachtungen dar- 
zutun, daß ein eine Zeitlang im Schöße einer tätigen 
Masse eingebettetes Individuum in Bälde — durch 
Ausströmungen, die von ihr ausgehen oder sonst 
eine unbekannte Ursache — in einem Sonderzustand 
sich befindet, der sich sehr der Faszination nähert, 
die den Hypnotisierten unter dem Einfluß des Hyp- 

notisators befällt Die bewußte Persönlichkeit 

ist völlig geschwunden, Wille und Unterscheidungs- 
vermögen fehlen, alle Gefühle und Gedanken sind 
nach der durch den Hypnotisator hergestellten Rich- 
tung orientiert. 

So ungefähr verhält sich auch der Zustand des 
einer psychologischen Masse angehörenden Indi- 
viduums. Es ist sich seiner Handlungen nicht mehr 
bewußt. Wie beim Hypnotisierten können bei ihm, 
während zugleich gewisse Fähigkeiten aufgehoben 



II. Le Bon's Schild^nimg der Massenseete 13 

sind, andere auf einen Grad höchster Stärke gebracht 
werden. Unter dem Einflüsse einer Suggestion wird 

es sich mit einem unwiderstehlichen Triebe an die 

« 

Ausführung bestimmter Handlungen machen. Und 
dieses Ungestüm ist bei den Massen noch unwider- 
stehlicher als beim Hypnotisierten, weil die für alle 
Individuen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit 
anwächst." 

(S. 17.) „Die Hauptmerkmale des in der Masse 
befindlichen Individuums sind demnach: Schwund 
der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft der un- 
bewußten Persönlichkeit, Orientierung der Gedanken 
und Gefühle in derselben Richtung durch Suggestion 
und Ansteckung, Tendenz zur unverzüglichen Ver- 
wirklichung der suggerierten Ideen. Das Individuum 
ist nicht mehr es selbst, es ist ein willenloser Auto- 
mat geworden." 

Ich habe dies Zitat so ausführiich wiedergege- 
ben, um zu bekräftigen, daß L e B o n den Zustand 
des Individuums in der Masse wirklich für einen 
hypnotischen erklärt, nicht etwa ihn bloß mit einem 
solchen vergleicht. Wir beabsichtigen hier keinen 
Widerspruch, wollen nur hervorheben, daß die bei- 
den letzten Ursachen der Veränderung des Einzel- 
nen in der Masse, die Ansteckung und die höhere 



14 MassMpsychologie und Ich-Analyse 

Suggerierbarkeit offenbar nicht gleichartig sind, da 
ja die Ansteckung auch eine Äußerung der Sugge- 
rierbarkeit sein soll. Auch die Wirkungen der bei- 
den Momente scheinen uns im Text Le Bon's 
nicht scharf geschieden. Vielleicht deuten wir seine 
Äußerung am besten aus, wenn wir die Ansteckung 
auf die Wirkung der einzelnen Mitglieder der Masse 
aufeinander beziehen, während die mit den Phäno- 
menen der hypnotischen Beeinflussung gleichgestell- 
ten Suggestionserscheinungen in der Masse auf eine 
andere Quelle hinweisen. Auf welche aber? Es muß 
uns als eine empfindliche UnvoUständigkeit berüh- 
ren, daß eines der Hauptstücke dieser Angleichung, 
nämlich die Person, welche für die Masse den Hyp- 
notiseur ersetzt, in der Darstellung L e B o n's nicht 
erwähnt wird. Immerhin unterscheidet er von die- 
sem im Dunkeln gelassenen faszinierenden Einfluß 
die ansteckende Wirkung, die die Einzelnen auf 
einander ausüben, durch welche die ursprüngliche 
Suggestion verstärkt wird. 

Noch ein wichtiger Gesichtspunkt für die Be- 
urteilung des Massenindividuums: (S. 17.) „Ferner 
steigt durch die bloße Zugehörigkeit zu einer or- 
ganisierten Masse der Mensch mehrere Stufen auf 
der Leiter der Zivilisation herab. In seiner Verein- 



IL Le Bon's Schildemng der Massenseete 15 

zelung war er vielleicht ein gebildetes Individuum, 
in der Masse ist er ein Barbar, d. h. ein Triebwesen. 
Er besitzt die Spontaneität, die Heftigkeit, die Wild- 
heit und auch den Enthusiasmus und Heroismus 
primitiver Wesen." Er verweilt dann noch besonders 
bei der Herabsetzung der intellektuellen Leistung, 
die der Einzelne durch sein Aufgehen in der Masse 
erfährt*. 

Verlassen wir nun den Einzelnen und wenden 
wir uns zur Beschreibung der Massenseele, wie L e 
B o n sie entwirft. Es ist kein Zug darin, dessen Ab- 
leitung und Unterbringung dem Psychoanalytiker 
Schwierigkeiten bereiten würde. L e B o n weist uns 
selbst den Weg, indem er auf die Übereinstimmung 
mit dem Seelenleben der Primitiven und der Kinder 
hinweist. (S. 19.) 

Die Masse ist impulsiv, wandelbar und reizbar. 
Sie wird fast ausschließUch vom Unbewußten ge- 
leitet * * . Die Impulse, denen die Masse gehorcht, kön- 
nen je nach Umständen edel oder grausam, heroisch 
oder feige sein, jedenfalls aber sind sie so gebie- 

* 

* Vergleiche das Schiller'sche Distichon: 
Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig; 
Sind sie in corpore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus. 
** Unbewußt wird von Le Bon richtig im Smn-e der Deskrip- 
tion gebraucht, wo es nicht allein das „Verdrängte" bedeutet. 

2« 



16 Massenpsydiologle und Ich-Analyse 

terisch, daß nicht das persönliche, nicht einmal das 
Interesse der Selbsterhaltung zur Geltung kommt. 
(S. 20.) Nichts ist bei ihr vorbedacht. Wenn sie auch 
die Dinge leidenschaftlich begehrt, so doch nie für 
lange, sie ist unfähig zu einem Dauerwillen. Sie ver- 
trägt keinen Aufschub zwischen ihrem Begehren 
und der Verwirklichung des Begehrten. Sie hat das 
Gefühl der Allmacht, für das Individuum in der 
Masse schwindet der Begriff des Unmöglichen*. 

Die Masse ist außerordentlich beeinflußbar und 
leichtgläubig, sie ist kritiklos, das Unwahrscheinliche 
existiert für sie nicht. Sie denkt in Bildern, die einan- 
der assoziativ hervorrufen, wie sie sich beim Einzel- 
nen in Zuständen des freien Phantasierens einstellen, 
und die von keiner verständigen Instanz an der Über- 
einstimmung mit der Wirklichkeit gemessen werden. 
Die Gefühle der Masse sind stets sehr einfach und 
sehr überschwenglich. Die Masse kennt also weder 
Zweifel noch Ungewißheit. 

In der Deutung der Träume, denen wir ja unsere 
beste Kenntnis vom unbewußten Seelenleben verdanken, 
befolgen wir die technische Regel, daß von Zweifel und 
Unsicherheit in der Traumerzählung abgesehen und jedes 
Element des manifesten Traumes als gleich gesichert 

* Vergleiche Totem und Tabu III., Animlsmus, Ma«ie und 
Alhnacht d«r Gedanken. 






II. Le Bon*s Schilderung der Massenseele 17 

behandelt wird. Wir Riten Zweifel und Unsicherheit von 
der Einwirkung der Zensur ab, welcher die Traumarbeit 
unterliegt, und nehmen an, daß die primären Traum- 
gedanken Zweifel und Unsicherheit als kritische Leistung 
nicht kennen. Als Inhalte mögen sie natürlich, wie alles 
andere, in den zum Traum führenden Tagesresten vor- 
kommen. (S. Traumdeutung. 5. Aufl. 1919, S. 386.) 

Sie geht sofort zum Äußersten, der ausgespro- 
chene Verdacht wandelt sich bei ihr sogleich in un- 
umstößliche Gewißheit, ein Keim von Antipathie wird 
zum wilden Haß. (S. 32.) 

Die nämliche Steigerung aller Qefühlsregungen zum 
Extremen und Maßlosen gehört auch der Affektivität des 
Kindes an und findet sich im Traumleben wieder, wo 
dank der im Unbewußten vorherrschenden Isolierung der 
einzelnen Qefühlsregungen ein leiser Arger vom Tage 
sich als Todeswunsch gegen die schuldige Person zum 
Ausdruck bringt oder ein Anflug irgend einer Ver- 
suchung zum Anstoß einer im Traum dargestellten ver- 
brecherischen Handlung wird. Zu dieser Tatsache hat 
Dr. Hanns Sachs die hübsche Bemerkung gemacht: „Was 
der Traum uns an Beziehungen zur Qegenwart (Realität) 
kundgetan hat, wollen wir dann auch im Bewußtsein 
aufsuchen und dürfen uns nicht wundern, wenn wir das 
Ungeheuer, das wir unter dem Vergrößerungsglas der 
Analyse gesehen haben, als Infusionstierchen wieder- 
finden." (Traumdeutung, S. 457.) 

Selbst zu allen Extremen geneigt, wird die Masse 
auch nur durch übermäßige Reize erregt. Wer auf sie 



18 Massenpsycholosie und Ich-Analyse 

wirken will, bedarf keiner logischen Abmessung 
seiner Argumente, er muß in den kräftigsten Bildern 
malen, übertreiben und immer das Gleiche wieder- 
holen. 

Da die Masse betreffs des Wahren oder Falschen 
nicht im Zweifel ist und dabei das Bewußtsein ihrer 
großen Kraft hat, ist sie ebenso intolerant wie auto- 
ritätsgläubig. Sie respektiert die Kraft und läßt sich 
von der Güte, die für sie nur eine Art von Schwäche 
bedeutet, nur mäßig beeinflussen. Was sie von ihren 
Helden verlangt, ist Stärke, selbst Gewalttätigkeit. 
Sie will beherrscht und unterdrückt werden und 
ihren Herrn fürchten. Im Grunde durchaus konser- 
vativ hat sie tiefen Abscheu vor allen Neuerungen 
und Fortschritten und unbegrenzte Ehrfurcht vor der 
Tradition. (S. 37.) 

Um die Sitthchkeit der Massen richtig zu be- 
urteilen, muß man in Betracht ziehen, daß im Bei- 
sammensein der Massenindividuen alle individuellen 
Hemmungen entfallen und alle grausamen, brutalen, 
destruktiven Instinkte, die als Überbleibsel der Urzeit 
im Einzelnen schlummern, zur freien Triebbefriedi- 
gung geweckt werden. Aber die Massen sind auch 
unter dem Einfluß der Suggestion hoher Leistungen 
von Entsagung, Uneigennützigkeit, Hingebung an 



II. Le Bon's Schilderung der Massenseele 19 

ein Ideal fähig. Während der persönliche Vorteil beim 
isolierten Individuum so ziemlich die einzige Trieb- 
feder ist, ist er bei den Massen sehr selten vorherr- 
schend. Man kann von einer Versittlichung des Ein- 
zelnen durch die Masse sprechen. (S. 39.) Während 
die intellektuelle Leistung der Masse immer tief unter 
der des Einzelnen steht, kann ihr ethisches Verhalten 
dies Niveau ebenso hoch überragen wie tief darunter 
herabgehen. 

Ein helles Licht auf die Berechtigung, die Mas- 
senseele mit der Seele der Primitiven zu identifizie- 
ren, werfen einige andere Züge der L e B o naschen 
Charakteristik. Bei den Massen können die entgegen- 
gesetztesten Ideen nebeneinander bestehen und sich 
miteinander vertragen, ohne daß sich aus deren 
logischem Widerspruch ein Konflikt ergäbe. Dasselbe 
ist aber im unbewußten Seelenleben der Einzelnen, 
der Kinder und der Neurotiker der Fall, wie die 
Psychoanalyse längst nachgewiesen hat. 

Beim kleinen Kinde bestehen z. B. ambivalente 
Qefühlseinstellungen gegen die ihm nächsten Personen 
lange Zeit nebeneinander, ohne daß die eine die ihr ent- 
gegengesetzte in ihrem Ausdruck stört. Kommt es dann 
endlich zum Konflikt zwischen den beiden, so wird er 
oft dadurch erledigt, daß das Kind das Objekt wechselt, 
die eine der ambivalenten Regungen auf ein Ersatzobjekt 



20 ' Massenpsychologle und Ich-AoaJyse 

verschiebt. Auch aus der Entwicklungsgeschichte einer 
Neurose beim Erwachsenen kann man erfahren, daß eine 
unterdrückte Regung sich häufig lange Zeit in unbewußten 
oder selbst bewußten Phantasien fortsetzt, deren Inhalt 
natürlich einer herrschenden Strebung direkt zuwider- 
läuft, ohne daß sich aus diesem Gegensatz ein Einschreiten 
des Ichs gegen das von ihm Verworfene ergäbe. Die Phan- 
tasie wird eine ganze Weile über toleriert, bis sich plötz- 
lich einmal, gewöhnlich infolge einer Steigerung der affek- 
tiven Besetzung derselben, der Konflikt zwischen ihr und 
dem Ich mit allen seinen Folgen herstellt. 

Im Fortschritt der Entwicklung vom Kinde zum 
reifen Erwachsenen kommt es überhaupt zu einer immer 
weiter greifenden Integration der Persönlichkeit, zu 
einer Zusammenfassung der einzelnen unabhängig von- 
einander in ihr gewachsenen Triebregungen und Ziel- 
strebungen. Der analoge Vorgang auf dem Gebiet des 
Sexuallebens ist uns als Zusammenfassung aller Sexual- 
triebe zur definitiven Genitalorganisation lange bekannt 
(Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 1905). Daß die Ver- 
einheitlichung des Ichs übrigens dieselben Störungen er- 
fahren kann wie die der Libido, zeigen vielfache, sehr 
bekannte Beispiele, wie das der Naturforscher, die bibel- 
gläubig geblieben sind u. a. 

Ferner unterliegt die Masse der wahrhaft ma- 
gischen Macht von Worten, die in der Massenseele 
die furchtbarsten Stürme hervorrufen und sie auch 
besänftigen können. (S. 74.) „Mit Vernunft und Ar- 
gumenten kann man gegen gewisse Worte und For- 
meln nicht ankämpfen. Man spricht sie mit Andacht 



n. Le Bon*s Schiidenins der Massenseele 21 

vor den Massen aus, und sogleich werden die Mienen 
respektvoll und die Köpfe neigen sich. Von vielen 
werden sie als Naturkräfte oder als tibematürliche 
Mächte betrachtet." (S. 75.) Man braucht sich dabei 
nur an die Tabu der Namen bei den Primitiven, an 
die magischen Kräfte, die sich ihnen an Namen und 
Worte knüpfen, zu erinnern*. 

Und endlich: Die Massen haben nie den Wahr- 
heitsdurst gekannt. Sie fordern Illusionen, auf die 
sie nicht verzichten können. Das Irreale hat bei ihnen 
stets den Vorrang vor dem Realen, das Unwirkliche 
beeinflußt sie fast ebenso stark wie das Wirkliche. 
Sie haben die sichtliche Tendenz, zwischen beiden 
keinen Unterschied zu machen. (S. 47.) 

Diese Vorherrschaft des Phantasielebens und 
der vom unerfüllten Wunsch getragenen Illusion 
haben wir als bestimmend für die Psychologie der 
Neurosen aufgezeigt. Wir fanden, für die Neurotiker 
gelte nicht die gemeine objektive, sondern die psy- 
chische Realität. Ein hysterisches Symptom gründe 
sich auf Phantasie anstatt auf die Wiederholung 
wirklichen Erlebens, ein zwangsneurotisches Schuld- 
bewußtsein auf die Tatsache eines bösen Vorsatzes, 

• Sieii« ToteiD und Tabu. 



22 Massenpsycholosie und Ich-Analyse 

der nie zur Ausführung gekommen. Ja wie im Traum 
und in der Hypnose, tritt in der Seelentätigkeit der 
Masse die Realitätsprüfung zurück gegen die Stärke 
der affektiv besetzten Wunschregungen. 

Was L e B o n über die Führer der Massen sagt, 
ist weniger erschöpfend und läßt das Gesetzmäßige 
nicht so deutlich durchschimmern. Er meint, sobald 
lebende Wesen in einer gewissen Anzahl vereinigt 
sind, einerlei ob eine Herde Tiere oder eine Men- 
schenmenge, stellen sie sich instinktiv unter die Auto- 
rität eines Oberhauptes. (S. 86.) Die Masse ist eine 
folgsame Herde, die nie ohne Herrn zu leben ver- 
mag. Sie hat einen solchen Durst zu gehorchen, daß 
sie sich jedem, der sich zu ihrem Herrn ernennt, in- 
stinktiv unterordnet. 

Kommt so das Bedürfnis der Masse dem Führer 
entgegen, so muß er ihm doch durch persönliche 
Eigenschaften entsprechen. Er muß selbst durch 
einen starken Glauben (an eine Idee) fasziniert sein, 
um Glauben in der Masse zu erwecken, er muß 
einen starken, imponierenden Willen besitzen, den 
die willenlose Masse von ihm annimmt. Le Bon 
bespricht dann die verschiedenen Arten von Füh- 
rern und die Mittel, durch welche sie auf die Masse 



II. Le Bon*s Schildenmg der Massenseele 23 

wirken. Im ganzen läßt er die Führer durch die 
Ideen zur Bedeutung kommen, für die sie selbst 
fanatisiert sind. 

Diesen Ideen wie den Führern schreibt er über- 
dies eine geheimnisvolle unwiderstehliche Macht zu, 
die er „Prestige" benennt. Das Prestige ist eine Art 
Herrschaft, die ein Individuum, ein Werk oder eine 
Idee über uns übt. Sie lähmt all unsere Fähigkeit 
zur Kritik und erfüllt uns mit Staunen und Achtung. 
Sie dürfte ein Gefühl hervorrufen, ähnlich wie das 
der Faszination der Hypnose. (S. 96.) . 

Er unterscheidet erworbenes oder künstliches 
und persönliches Prestige. Das erstere wird 
bei Personen durch Name, Reichtum, Ansehen ver- 
liehen, bei Anschauungen, Kunstwerken u. dgl. 
durch Tradition. Da es in allen Fällen auf die Ver- 
gangenheit zurückgreift, wird es für das Verständ- 
nis dieses rätselhaften Einflusses wenig leisten. Das 
persönliche Prestige haftet an wenigen Personen, die 
durch dasselbe zu Führern werden, und macht, daß 
ihnen alles wie unter der Wirkung eines magnetischen 
Zaubers gehorcht. Doch ist jedes Prestige auch vom 
Erfolg abhängig und geht durch Mißerfolge ver- 
loren. (S. 105.) 



24 Masseopsychobgie und Ich-Analyse 

Man gewinnt nicht den Eindruck, daß bei L e 
Bon die Rolle der Führer und die Betonung des 
Prestige in richtigen Einklang mit der so glänzend 
vorgetragenen Schilderung der Massenseele ge- 
bracht worden ist. 



III. 

Andere Wördigmigen des kollektiven Seelenlebens. 

Wir haben uns der Darstellung von L e B o n 
als Einführung bedient, weil sie in der Betonung 
des unbewußten Seelenlebens so sehr mit unserer 
eigenen Psychologie zusammentrifft. Nun müssen 
wir aber hinzufügen, daß eigentlich keine der Be- 
hauptungen dieses Autors etwas Neues bringt. 
Alles was er Abträgliches und Herabsetzendes über 
die Äußerungen der Massenseele sagt, ist schon vor 
ihm ebenso bestimmt und ebenso feindselig von 
anderen gesagt worden, wird seit den ältesten Zei- 
ten der Literatur von Denkern, Staatsmännern und 
Dichtern gleichlautend so wiederholt*. Die beiden 
Sätze, welche die wichtigsten Ansichten L e B o n's 
enthalten, der von der kollektiven Hemmung der 
intellektuellen Leistung und der von der Steigerung 

• Vergleiche den Text und das Literaturverzeichnis in 
B. KraSkovIC jun.. Die Psychologie der Kollektivitäten. Aus dem 
Kroatischen übersetzt von Sie gm und von Posavec 
Vukovar 1915. 



26 Massenpsychologie und Ich-Analyse 

der Affektivität in der Masse waren kurz vorher 
von Sighele formuliert worden*. Im Gründe er- 
übrigen als Le Bon eigentümlich nur die beiden 
Gesichtspunkte des Unbewußten und des Vergleichs 
mit dem Seelenleben der Primitiven, auch diese 
natürlich oftmals vor ihm berührt. 

Aber noch mehr, die Beschreibung und Wür- 
digung der Massenseele, wie Le Bon und die 
anderen sie geben, ist auch keineswegs unangefoch- 
ten geblieben. Kein Zweifel, daß alle die vorhin be- 
schriebenen Phänomene der Massenseele richtig be- 
obachtet worden sind, aber es lassen sich auch 
andere, geradezu entgegengesetzt wirkende Äuße- 
rungen der Massenbildung erkennen, aus denen man 
dann eine weit höhere Einschätzung der Massen- 
seele ableiten muß. 

Auch Le Bon war bereit zuzugestehen, daß 
die ' Sittlichkeit der Masse unter Umständen höher 
sein kann als die der sie zusammensetzenden Ein- 
zelnen, und daß nur die Gesamtheiten hoher Un- 
eigennützigkeit und Hingebung fähig sind. 

(S. 38.) „Während der persönliche Vorteil beim 

* Siehe Walter Moed«, Die Massen- und Sozialpsychologie 
im kritischen Überbliclc. Zeitschrift für pädagogische Psychologie 
und experimentelle Pädagogik von Meumann und Scfieibner, 
XVI.. 1915. 



III. Ander« Wüixli«imgein des kollektiven Seetenlebens 27 

isolierten Individuum so ziemlich die einzige Trieb- 
feder ist, ist er bei den Massen sehr selten vorherr- 
schend." 

Andere machen geltend, daß es überhaupt 
erst die Gesellschaft ist, welche dem Einzelnen die 
Normen der Sittlichkeit vorschreibt, während der 
Einzelne in der Regel irgendwie hinter diesen hohen 
Ansprüchen zurückbleibt. Oder, daß in Ausnahms- 
zuständen in einer Kollektivität das Phänomen der 
Begeisterung zustande kommt, welches die groß- 
artigsten Massenleistungen ermöglicht hat. 

In Betreff der intellektuellen Leistung bleibt 
zwar bestehen, daß die großen Entscheidungen der 
Denkarbeit, die folgenschweren Entdeckungen und 
Problemlösungen nur dem Einzelnen, der in der 
Einsamkeit arbeitet, möglich sind. Aber auch die 
Massenseele ist genialer geistiger Schöpfungen 
fähig, wie vor allem die Sprache selbst beweist, so- 
dann das Volkslied, Folklore und anderes. Und über- 
dies bleibt es dahingestellt, wieviel der einzelne Den- 
ker oder Dichter den Anregungen der Masse, in 
welcher er lebt, verdankt, ob er mehr als der Voll- 
ender einer seelischen Arbeit ist, an der gleichzeitig 
die anderen mitgetan haben. 

Angesichts dieser vollkommenen Widersprüche 



28 Massenpsycholosie und Ich-Analyse 

scheint es ja, daß die Arbeit der Massenpsychologie 
ergebnislos verlaufen müsse. Allein es ist leicht, 
einen hoffnungsvolleren Ausweg zu finden. Man 
hat wahrscheinlich als „Massen" sehr verschiedene 
Bildungen zusammengefaßt, die einer Sonderung 
bedürfen. • Die Angaben von Sighele, LeBon 
und anderen beziehen sich auf Massen kurzlebiger 
Art, die rasch durch ein vorübergehendes Interesse 
aus verschiedenartigen Individuen zusammengeballt 
werden. Es ist unverkennbar, daß die Charaktere 
der revolutionären Massen, besonders der großen 
französischen Revolution, ihre Schilderungen beein- 
flußt haben. Die gegensätzlichen Behauptungen 
stammen aus der Würdigung jener stabilen Massen 
oder Vergesellschaftungen, in denen die Menschen 
ihr Leben zubringen, die sich in den Institutionen 
der Gesellschaft verkörpern. Die Massen der ersten 
Art sind den letzteren gleichsam aufgesetzt, wie die 
kurzen, aber hohen Wellen den langen Dünungen 
der See. 

M^ D o u g a 1 1, der in seinem Buch The 
Group Mind* von dem nämlichen, oben er- 
wähnten Widerspruch ausgeht, findet die Lösung 
desselben im Moment der Organisation. Im einfach- 

• Cambridge, 1920. 



III. Andere Wündtennsen des kollektiven Seelenlebens 29 

sten Falle, sagt er, besitzt die Masse (group) über- 
haupt keine Organisation oder eine kaum nennens- 
werte. Er ^bezeichnet eine solche Masse, als einen 
Haufen (crowd). Doch gesteht er zu, daß ein 
Haufen Menschen nicht leicht zusammenkommt, 
ohne daß sich in ihm wenigstens die ersten 
Anfänge einer Organisation bildeten, und daß 
gerade an diesen einfachen Massen manche 
Grundtatsachen der Kollektivpsychologie beson- 
ders leicht zu erkennen sind. (S. 22.) Damit 
sich aus den zufällig zusammengewehten Mit- 
gliedern eines Menschenhaufens etwas wie eine 
Masse im psychologischen Sinne bilde, wird 
als Bedingung erfordert, daß diese Einzelnen etwas 
miteinander gemein haben, ein gemeinsames Inter- 
esse an einem Objekt, eine gleichartige Gefühlsrich- 
tung in einer gewissen Situation und (ich würde ein- 
setzen: infolgedessen) ein gewisses Maß von Fähig- 
keit sich untereinander zu beeinflussen. (Some degree 
of reciprocal influence between the members of the 
group) (S. 23.) Je stärker diese Gemeinsamkeiten 
(this mental homogeneity) sind, desto leichter bildet 
sich aus den Einzelnen eine psychologische Masse 
und desto auffälliger äußern sich die Kundgebungen 
einer Massenseele. 



30 Masseni^sydiolosie tmd Ich^naiyse 

Das merkwürdigste und zugleich wichtigste 
Phänomen der Massenbildung ist nun die bei jedem 
Einzelnen hervorgerufene Steigerung der Affektivi- 
tät (exaltation or intensification of emotion) (S. 24). 
Man kann sagen, meint M^Dougall, daß die 
Affekte der Menschen kaum unter anderen Bedin- 
gungen zu solcher Höhe anwachsen, wie es in einer 
Masse geschehen kann, und zwar ist es eine genuß- 
reiche Empfindung für die Beteiligten, sich so 
schrankenlos ihren Leidenschaften hinzugeben und 
dabei in der Masse aufzugehen, das Gefühl ihrer 
individuellen Abgrenzung zu verlieren. Dies Mit- 
fortgerissen werden der Individuen erklärt M^ D o u- 
gall aus dem von ihm so genannten „principle 
of direct induction of emotion by way of the 
primitive sympathetic response" (S. 25), d. h. durch 
die uns bereits bekannte Gefühlsansteckung. Die 
Tatsache ist die, daß die wahrgenommenen Zeichen 
eines Affektzustandes geeignet sind, bei dem Wahr- 
nehmenden automatisch denselben Affekt hervorzu- 
rufen. Dieser automatische Zwang wird umso stär- 
ker, an je mehr Personen gleichzeitig derselbe Affekt 
bemerkbar ist. Dann schweigt die Kritik des Ein- 
zelnen und er läßt sich in denselben Affekt gleiten. 
Dabei erhöht er aber die Erregung der anderen, die 



vk- 



III. Andere Würdigjungen des kollektiven Seelenlebens 31 

auf ihn gewirkt hatten, und so steigert sich die 
Affektladung der Einzelnen durch gegenseitige In- 
duktion. Es ist unverkennbar etwas wie ein Zwang 
dabei wirksam, es den anderen gleichzutun, im Ein- 
klang mit den Vielen zu bleiben. Die gröberen und 
einfacheren Gefühlsregungen haben die größere 
Aussicht, sich auf solche Weise in einer Masse zu 
verbreiten. (S. 39.) 

Dieser Mechanismus der Affektsteigerung wird 
noch durch einige andere, von der Masse aus- 
gehende Einflüsse begünstigt. Die Masse macht dem 
Einzelnen den Eindruck einer unbeschränkten Macht 
und einer unbesiegbaren Gefahr. Sie hat sich für 
den Augenblick an die Stelle der gesamten mensch- 
hchen Gesellschaft gesetzt, welche die Trägerin der 
Autorität ist, deren Strafen man gefürchtet, der zu- 
liebe man sich so viele Hemmungen auferlegt hat. Es 
ist offenbar gefährlich, sich in Widerspruch mit ihr zu 
setzen, und man ist sicher, wenn man dem rings- 
umher sich zeigenden Beispiel folgt, also eventuell 
sogar „mit den Wölfen heult". Im Gehorsam gegen 
die neue Autorität darf man sein früheres „Gewissen" 
außer Tätigkeit setzen und dabei der Lockung des 
Lustgewinns nachgeben, den man sicherlich durch 
die Aufhebung seiner" Hemmungen erzielt. Es ist 



32 Masseiii>sycholoKie und Ich-Analyse 

also im ganzen nicht so merkwürdig, wenn wir den 
Einzelnen in der Masse Dinge tun oder gutheißen 
sehen, von denen er sich in seinen gewohnten 
Lebensbedingungen abgewendet hätte, und wir 
können selbst die Hoffnung fassen, auf diese Weise 
ein Stück der Dunkelheit zu lichten, die man mit dem 
Rätselwort der „Suggestion" zu decken pflegt. 

Dem Satz von der kollektiven Intelligenzhem- 
mung in der Masse widerspricht auch M^Dougäll 
nicht (S. 41). Er sagt, die geringeren Intelügenzen 
ziehen die größeren auf ihr Niveau herab. Die letzte- 
ren werden in ihrer Betätigung gehemmt, weil die 
Steigerung der Affektivität überhaupt ungünstige Be- 
dingungen für korrekte geistige Arbeit schafft, fer- 
ner weil die Einzelnen durch die Masse eingeschüch- 
tert sind und ihre Denkarbeit nicht frei ist, und weil 
bei jedem Einzelnen das Bewußtsein der Verantwort- 
lichkeit für seine Leistung herabgesetzt wird. 

Das Gesamturteil über die psychische Leistung 
einer einfachen, „unorganisierten" Masse lautet bei 
M^ D o u g a 1 1 nicht freundlicher als bei L e B on. 
Eine solche Masse ist (S. 45): überaus erregbar, 
impulsiv, leidenschaftlich, wankelmütig, inkonse- 
quent, unentschlossen und dabei zum äußersten 



III. Andere Würdisun-sen des kollektiv«!! Seelenlebens 33 

bereit in ihren Handlungen, zugänglich nur für die 
gröberen Leidenschaften und einfacheren Gefühle, 
außerordentlich suggestibel, leichtsinnig in ihren 
Überlegungen, heftig in ihren Urteilen, aufnahms- 
fähig nur für die einfachsten und unvollkommensten 
Schlüsse und Argumente, leicht zu lenken und zu 
erschüttern, ohne Selbstbewußtsein, Selbstachtung 
und Verantwortlichkeitsgefühl, aber bereit, sich von 
ihrem Kraftbewußtsein zu allen Untaten fortreißen 
zu lassen, die wir nur von einer absoluten und tm- 
verantwortlichen Macht erwarten können. Sie be- 
nimmt sich also eher wie ein ungezogenes Kind oder 
wie ein leidenschaftlicher, nicht beaufsichtigter 
Wilder in einer ihm, fremden Situation; in den 
schlimmsten Fällen ist ihr Benehmen eher das eines 
Rudels von wilden Tieren als von menschlichen 
Wesen. 

Da M^ D o u g a 1 1 das Verhalten der hoch 
organisierten Massen in Gegensatz zu dem hier 
Geschilderten bringt, werden wir besonders ge- 
spannt sein zu erfahren, worin diese Organisation 
besteht und durch welche Momente sie hergestellt 
wird. Der Autor zählt fünf dieser „principal condi- 
tions" für die Hebung des seelischen Lebens der 
Masse auf ein höheres Niveau auf. 



34 Massenpsycfaok)£ie uikI Ich-Atialyse 

Die erste, grundlegende Bedingung ist ein ge- 
wisses Maß von Kontinuität im Bestand der Masse. 
Diese kann eine materielle oder eine formale sein, 
das erste, wenn dieselben Personen längere Zeit in 
der Masse verbleiben, das andere, wenn innerhalb 
der Masse bestimmte Stellungen entwickelt sind, die 
den einander ablösenden Personen angewiesen 
werden. 

Die zweite, daß sich in dem Einzelnen der 
Masse eine bestimmte Vorstellung von der Natur, 
der Funktion, den Leistungen und Ansprüchen der 
Masse gebildet hat, so daß sich daraus für ihn ein 
Gefühlsverhältnis zum Ganzen der Masse ergeben 
kann. 

Die dritte, daß die Masse in Beziehung zu ande- 
ren ihr ähnlichen, aber doch von ihr in vielen Punkten 
abweichenden Massenbildungen gebracht wird, 
etwa daß sie mit diesen rivalisiert. 

Die vierte, daß die Masse Traditionen, Ge- 
bräuche und Einrichtungen besitzt, besonders 
solche, die sich auf das Verhältnis ihrer Mitglieder 
zueinander beziehen. 

Die fünfte, daß es in der Masse eine Gliederung 
gibt, die sich in der Spezialisierung und Differenzie- 



IIL Ander« Wfirdteiuicea des kollektiven Seelenlebens 35 

rung der dem Einzelnen zufallenden Leistung aus- 
drückt. 

Durch die Erfüllung dieser Bedingungen wer- 
den nach M^Dougall die psychischen Nach- 
teile der Massenbildung aufgehoben. Gegen die 
kollektive Herabsetzung der Intelligenzleistung 
schützt man sich dadurch, daß man die Lösung der 
intellektuellen Aufgaben der Masse entzieht und sie 
Einzelnen in ihr vorbehält. 

Es scheint uns, daß man die Bedingung, die 
M ^ D o u g a 1 1 als „Organisation" der Masse be- 
zeichnet hat, mit mehr Berechtigung anders be- 
schreiben kann. Die Aufgabe besteht darin, der 
Masse gerade jene Eigenschaften zu verschaffen, 
die für das Individuum charakteristisch waren und 
die bei ihm durch die Massenbildung ausgelöscht 
wurden. Denn das Individuum hatte — außerhalb 
der primitiven Masse — seine Kontinuität, sein 
Selbstbewußtsein, seine Traditionen und Gewohn- 
heiten, seine besondere Arbeitsleistung und Ein- 
reihung und hielt sich von anderen gesondert, mit 
denen es rivalisierte. Diese Eigenart hatte es durch 
seinen Eintritt in die nicht „organisierte" Masse 
für eine Zeit verloren. Erkennt man so als Ziel, die 
Masse mit den Attributen des Individuums auszu- 



36 Massenpsycholog:ie und Ich-Analyse 

statten, so wird man an eine gehaltreiche Bemerkung 
von W. Trotter* gemahnt, der in der Neigung 
zur Massenbildung eine biologische Fortführung 
der Vielzelligkeit aller höheren Organismen erblickt. 

• Instincts of the berd in peace and war. London 1916. 



IV. 



Suggestion and Libido. 

Wir sind von der Orundtatsache ausgegangen, 
daß ein Einzelner innerhalb einer Masse durch den 
Einfluß derselben eine oft tiefgreifende Veränderung 
seiner seelischen Tätigkeit erfährt. Seine Affektivität 
wird außerordentlich gesteigert, seine intellektuelle 
Leistung merklich eingeschränkt, beide Vorgänge 
offenbar in der Richtung einer Angleichung an die 
anderen Massenindividuen; ein Erfolg, der nur 
durch die Aufhebung der jedem .Einzelnen eigen- 
tümlichen Triebhemmungen und durch den Verzicht 
auf die ihm besonderen Ausgestaltungen seiner 
Neigungen erreicht werden kann. Wir haben gehört, 
daß diese oft unerwünschten Wirkungen durch eine 
höhere „Organisation" der Massen wenigstens teil- 
weise hintangehalten werden, aber der Grundtat- 
sache der Massenpsychologie, den beiden Sätzen 
von der Affektsteigerung und der Denkhemmung in 



38 Massenpsydiologie und Ich-Analyse 

der primitiven Masse ist dadurch nicht wider- 
sprochen worden. Unser Interesse geht nun dahin, 
für diese seelische Wandlung des Einzelnen in der 
Masse die psychologische Erklärung zu finden. 

■ 

Rationelle Momente wie die vorhin erwähnte 
Einschüchterung des Einzelnen, also die Aktion sei- 
nes Selbsterhaltungstriebes, decken offenbar die zu 
beobachtenden Phänomene nicht. Was uns sonst 
als Erklärung von den Autoren über Soziologie und 
Massenpsychologie geboten wird, ist immer das 
nämliche, wenn auch unter wechselnden Namen: das 
Zauberwort der Suggestion. Bei Tarde 
hieß sie Nachahmung, aber wir müssen einem 
Autor recht geben, der uns vorhält, die Nachahmung 
falle unter den Begriff der Suggestion, sei eben eine 
Folge derselben * . Bei L e B o n wurde alles Befrem- 
dende der sozialen Erscheinungen auf zwei Faktoren 
zurückgeführt, auf die gegenseitige Suggestion der 
Einzelnen und das Prestige der Führer. Aber das 
Prestige äußert sich wiederum nur in der Wirkung, 
Suggestion hervorzurufen. Bei M^Dougall 
konnten wir einen Moment lang den Eindruck emp- 
fangen, daß sein Prinzip der „primären Affektinduk- 



* Brugeiilles, L'essence du ph^nom^n'C social: la Suggestion 
Revue philosophique XXV. 1913. 



IV. Suggestion und Libido 39 

tion'^ die Annahme der Suggestion entbehrlich 
mache. Aber bei weiterer Überlegwig müssen wir 
doch einsehen, daß dies Prinzip nichts anderes aus- 
sagt als die bekannten Behauptungen der ^^Nach- 
ahmung'' oder „Ansteckung", nur unter entschie- 
dener Betonung des affektiven Moments. Daß eine 
derartige Tendenz in uns besteht, wenn wir die 
Zeichen eines Affektzustandes bei einem anderen ge- 
wahren, in denselben Affekt zu verfallen, ist un- 
zweifelhaft, aber wie oft widerstehen wir ihr erfolg- 
reich, weisen den Affekt ab, reagieren oft in ganz 
gegensätzlicher Weise? Warum also geben wir die- 
ser Ansteckung in der Masse regelmäßig nach? Man 
wird wiederum sagen müssen, es sei der suggestive 
Einfluß der Masse, der uns nötigt, dieser Nach- 
ahmungstendenz zu gehorchen, der den Affekt in 
uns induziert. Übrigens kommen wir auch sonst bei 
M^^Dougall nicht um die Suggestion herum; 
wir hören von ihm wie von anderen:, die Massen 
zeichnen sich durch besondere Suggestibilität aus. 
Man wird so für die Aussage vorbereitet, die 
Suggestion (richtiger die Suggerierbarkeit) sei eben 
ein weiter nicht reduzierbares Urphänomen, eine 
Grundtatsache des menschlichen Seelenlebens. So 
hielt es auch B e r n h e i m, von dessen erstaunlichen 



40 Massenpsychologie und Ich-Analyse 

Künsten ich im Jahre 1889 Zeuge war. Ich weiß 
mich aber auch damals an eine dumpfe Gegnerschaft 
gegen diese Tyrannei der Suggestion zu erinnern. 
Wenn ein Kranker, der sich nicht gefügig zeigte, 
angeschrieen wurde: Was tun Sie denn? Vous vous 
contresuggestionnez! so sagte ich mir, das sei offen- 
bares Unrecht und Gewalttat. Der Mann habe zu 
Gegensuggestionen gewiß ein Recht, wenn man ihn 
mit Suggestionen zu unterwerfen versuche. Mein 
Widerstand nahm dann später die Richtung einer 
Auflehnung dagegen, daß die Suggestion, die alles 
erklärte, selbst der Erklärung entzogen sein sollte. 
Ich wiederholte mit Bezug auf sie die alte Scherz- 
frage * : 

Christoph trug Christum, 
Christus trug die ganze Welt, 
Sag\ wo hat Christoph 
Damals hin den Fuß gesteUt? 

Christophorus Christum, sed Christus sustulit orbem: 
Constiterit pedibus die ubi Christophorus? 

Wenn ich nun nach etwa 30jähriger Fernhal- 
tung wieder an das Rätsel der Suggestion heran- 



• Konrad Richter, I>eir deutsche S. Christoph. Berlin 
1896. Acta Germanica V, 1. 



IV. Sussestion und Libido 41 

trete, finde ich, daß sich nichts daran geändert hat. 
Von einer einzigen Ausnahme, die eben den Einfluß 
der Psychoanalyse bezeugt, darf ich ja bei dieser 
Behauptung absehen. Ich sehe, daß man sich beson- 
ders darum bemüht, den Begriff der Suggestion 
korrekt zu formulieren, also den Gebrauch des 
Namens konventionell festzulegen *, und dies ist 
nicht überflüssig, denn das Wort geht einer immer 
weiteren Verwendung mit aufgelockerter Bedeutung 
entgegen und wird bald jede beliebige Beeinflussung 
bezeichnen wie im Englischen, wo „to suggest, 
Suggestion" unserem „nahelegen", unserer „An- 
regung" entspricht. Aber über das Wesen der Sug- 
gestion, d. h. über die Bedingungen, unter denen 
sich Beeinflussungen ohne zureichende logische Be- 
gründung herstellen, hat sich eine Aufklärung nicht 
ergeben. Ich würde mich der Aufgabe nicht ent- 
ziehen, diese Behauptung durch die Analyse der 
Literatur dieser letzten 30 Jahre zu erhärten, allein 
ich unterlasse es, weil mir bekannt ist, daß in meiner 
Nähe eine ausführliche Untersuchung vorbereitet 
wird, welche sich eben diese Aufgabe gestellt hat. 
Anstatt dessen werde ich den Versuch machen. 



* So M^Dougall im „Journal of Neu!rok)sy and Psycfao- 
patliolQgy'', Vol I, No. 1, May 1920: A note on sussestion. 



42 Massen]>syciK>k>sle und Ich-AnaJyse 

zur Aufklärung der Massenpsychologie den Begriff 
der Libido zu verwenden, der uns im Studium 
der Psychoneurosen so gute Dienste geleistet hat. 
Libido ist ein Ausdruck aus der Afiektivitäts- 
lehre. Wir heißen so die als quantitative Größe be- 
trachtete — wenn auch derzeit nicht meßbare — 

Energie solcher Triebe, welche mit alldem zu tun 

« 

haben, was man als Liebe zusammenfassen kann. 
Den Kern des von uns Liebe Geheißenen bildet na- 
türlich, was man gemeinhin Liebe nennt und was 
die Dichter besingen, die Geschlechtsliebe mit dem 
Ziel der geschlechtlichen Vereinigung. Aber wir 
trennen davon nicht ab, was auch sonst an dem 
Namen Liebe Anteil hat, einerseits die Selbstliebe, 
andererseits die Eltern- und Kindesliebe, die Freund- 
schaft und die allgemeine Menschenliebe, auch nicht 
die Hingebung an konkrete Gegenstände und an 
abstrakte Ideen. Unsere Rechtfertigung liegt darin, 
daß die psychoanalytische Untersuchung uns gelehrt 
hat, alle diese Strebungen seien der Ausdruck der 
nämlichen Triebregungen, die zwischen den Ge- 
schlechtern zur geschlechtlichen Vereinigung hin- 
drängen, in anderen Verhältnissen zwar von diesem 
sexuellen Ziel abgedrängt oder in der Erreichung 
desselben aufgehalten werden, dabei aber doch 



IV. Suggestion und Libido 43 

immer genug von ihrem ursprünglichen Wesen be- 
wahren, um ihre Identität kenntlich zu erhalten 
(Selbstaufopferung, Streben nach Annäherung). 

Wir meinen also, daß die Sprache mit dem Wort 
„Liebe" in seinen vielfältigen Anwendungen eine 
durchaus berechtigte Zusammenfassung geschaffen 
hat, und daß wir nichts Besseres tun können, als die- 
selbe auch unseren wissenschaftlichen Erörterungen 
und Darstellungen zugrunde zu legen. Durch diesen 
Entschluß hat die Psychoanalyse einen Sturm von 
Entrüstung entfesselt, als ob sie sich einer frevel- 
haften Neuerung schuldig gemacht hätte. Und doch 
hat die Psychoanalyse mit dieser „erweiterten" Auf- 
fassung der Liebe nichts Originelles geschaffen. Der 
„E r o s" des Philosophen P 1 a t o zeigt in seiner 
Herkunft, Leistung und Beziehung zur Geschlechts- 
liebe eine vollkommene Deckung mit der Liebeskraft, 
der Libido der Psychoanalyse, wie Nachman- 
sohn und Pf ist er im Einzelnen dargelegt 
haben *, und wenn der Apostel Paulus in dem 
berühmten Brief an die Korinther die Liebe über 
alles andere preist, hat er sie gewiß im nämlichen 

* Nachmansohti, Freuds Libidotbeorie vorigllchen mit der 
Erosleiire Piatos. Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse III, 1915, 
Pf ister. ebd. VIL 1921. 



44 Massenpsycholosie und Ich-Analyse 

„erweiterten" Sinn verstanden *, woraus nur zu 
lernen ist, daß die Menschen ihre großen Denker 
nicht immer ernst nehmen, auch wenn sie sie angeb- 
lich sehr bewundern. 

Diese Liebestriebe werden nun in der Psycho- 
analyse a potiori und von ihrer Herkunft her 
Sexualtriebe geheißen. Die Mehrzahl der „Gebil- 
deten" hat diese Namengebung als Beleidigung 
empfunden und sich für sie gerächt, indem sie der 
Psychoanalyse den Vorwurf des „Pansexualismus" 
entgegenschleuderte. Wer die Sexualität für etwas 
die menschliche Natur Beschämendes und Erniedri- 
gendes hält, dem steht es ja frei, sich der vorneh- 
meren Ausdrücke Eros und Erotik zu bedienen. Ich 
hätte es auch selbst von Anfang an so tun können 
und hätte mir dadurch viel Widerspruch erspart. 
Aber ich mochte es nicht, denn ich vermeide gern 
Konzessionen an die Schwachmütigkeit. Man kann 
nicht wissen, wohin man auf diesem Wege gerät; 

■ 

man gibt zuerst in Worten nach und dann allmäh- 
lich auch in der Sache. Ich kann nicht finden, daß 
irgend ein Verdienst daran ist, sich der Sexualität zu 
schämen; das griechische Wort Eros, das den 

* „Wenn ich mit Menschen- /und mit Ensekungen redete, und 
(hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende 
ScbeUe". u. ff. 



rV. Sussestlon und Libido 45 

Schimpf lindern soll, ist doch schließlich nichts an- 
deres als die Übersetzung unseres deutschen Wortes 
Liebe, und endlich, wer warten kann, braucht keine 
Konzessionen zu machen. 

Wir werden es also mit der Voraussetzung ver- 
suchen, daß Liebesbeziehungen (indifferent ausge- 
drückt: Gefühlsbindungen) auch das Wesen der 
Massenseele ausmachen. Erinnern wir uns daran, 
daß von solchen bei den Autoren nicht die Rede ist. 
Was ihnen entsprechen würde, ist offenbar hinter 
dem Schirm, der spanischen Wand, der Suggestion 
verborgen. Auf zwei flüchtige Gedanken stützen wir 
zunächst unsere Erwartung. Erstens, daß die Masse 
offenbar durch irgend eine Macht zusammengehal- 
ten wird. Welcher Macht könnte man aber diese 
Leistung eher zuschreiben als dem Eros, der alles 
in der Welt zusammenhält? Zweitens, daß man den 
Eindruck empfängt, wenn der Einzelne in der Masse 
seine Eigenart aufgibt und sich von den anderen 
suggerieren läßt, er tue es, weil ein Bedürfnis bei ihm 
besteht, eher im Einvernehmen mit ihnen als im 
Gegensatz zu ihnen zu sein, also vielleicht doch 
„ihnen zuliebe". 



V. 



künstliche Massen: Kirche und Heer. 



Aus der Morphologie der Massen rufen wir 
uns ins Gedächtnis, daß man sehr verschiedene 
Arten von Massen und gegensätzliche Richtungen 
in ihrer Ausbildung unterscheiden kann. Es gibt 
sehr flüchtige Massen und höchst dauerhafte; 
homogene, die aus gleichartigen Individuen bestehen, 
und nicht homogene; natürliche Massen und künst- 
liche, die zu ihrem Zusammenhalt auch einen 
äußeren Zwang erfordern; primitive Massen und 
gegliederte, hoch organisierte. Aus Gründen aber, 
in welche die Einsicht noch verhüllt ist,» möchten 
wir auf eine Unterscheidung besonderen Wert legen, 
die bei den Autoren eher zu wenig beachtet wird; 
ich meine die von führerlosen Massen und von 
solchen mit Führern. Und recht im Gegensatz zur 
gewohnten Übung soll unsere Untersuchung nicht 
eine relativ einfache Massenbildung zum Ausgangs- 



V. Zw€i künstliche Massen: Kirdhe und Heer 47 

punkt wählen, sondern an hoch organisierten, dauer- 
haften, künstlichen Massen beginnen. Die inter- 
essantesten Beispiele solcher Gebilde sind die Kirche, 
die Oemeinschaft der Gläubigen, und die Armee, 
das Heer. 

Kirche und Heer sind künstliche Massen, das 
heißt, es wird ein gewisser äußerer Zwang auf- 
gewendet, um sie vor der Auflösung zu bewahren 
und Veränderungen in ihrer Struktur hintanzuhalten. 
Man wird in der Regel nicht befragt oder es wird 
einem nicht freigestellt, ob man in eine solche Masse 
eintreten will; der Versuch des Austritts wird 
gewöhnlich verfolgt oder strenge bestraft oder ist 
an ganz bestimmte Bedingungen geknüpft. Warum 
diese Vergesellschaftungen so besonderer Sicherun- 
gen bedürfen, liegt unserem Interesse gegenwärtig 
ganz ferne. Uns zieht nur der eine Umstand an, daß 
man an diesen hochorganisierten, in solcher Weise 
vor dem Zerfall geschützten Massen mit großer 
DeutÜchkeit gewisse Verhältnisse erkennt, die 
anderswo weit mehr verdeckt sind. 

In der Kirche — wir können mit Vorteil die 
katholische Kirche zum Muster nehmen — gilt wie 
im Heer, so verschieden beide sonst sein mögen, die 
nämliche Vorspiegelung (Illusion), daß ein Oberhaupt 



48 Massenpsydiolosie und IchnAnalyse 

da ist, — in der katholischen Kirche Christus, in der 
Armee der Feldherr — das alle Einzelnen der Masse 
mit der gleichen Liebe liebt. An dieser Illusion hängt 
alles; ließe man sie fallen, so zerfielen sofort, soweit 
der äußere Zwang es gestattete, Kirche wie Heer. 
Von Christus wird diese gleiche Liebe ausdrücklich 
ausgesagt: Was ihr getan habt Einem unter diesen 
meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 
Er steht zu den Einzelnen der gläubigen Masse 
im Verhältnis eines gütigen älteren Bruders, ist 
ihnen ein Vaterersatz. Alle Anforderungen an 
die Einzelnen leiten sich von dieser Liebe Christi 
ab. Ein demokratischer Zug geht durch die Kirche, 
eben weil vor Christus alle gleich sind, alle 
den gleichen Anteil an seiner Liebe haben. 
Nicht ohne tiefen Grund wird die Oleichartigkeit 
der christlichen Gemeinde mit einer Familie herauf- 
beschworen und nennen sich die Gläubigen Brüder 
in Christo, d. h. Brüder durch die Liebe, die Christus 
für sie hat. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Bin- 
dung jedes Einzelnen an Christus auch die Ursache 
ihrer Bindung unter einander ist. Ähnliches gilt für 
das Heer; der Feldherr ist der Vater, der alle seine 
Soldaten gleich liebt, und darum sind sie Kameraden 
untereinander. Das Heer unterscheidet sich struk- 



V. Zwei künstliche Massen: Kirohe und Heer 49 

turell von der Kirche darin, daß es aus einem Stufen- 
bau von solchen Massen besteht. Jeder Hauptmann 
ist gleichsam der Feldherr und Vater seiner Abtei- 
lung, jeder Unteroffizier der seines Zuges. Eine ähn- 
liche Hierarchie ist zwar auch in der Kirche aus- 
gebildet, spielt aber in ihr nicht dieselbe ökono- 
mische Rolle, da man Christus mehr Wissen und 
Bekümmern um die Einzelnen zuschreiben darf als 
dem menschlichen Feldherrn. 

Qegen diese Auffassung der libidinösen Struktur 
einer Armee wird man mit Recht einwenden, daß di^ 

. Ideen des Vaterlandes, des nationalen Ruhms u. a., die für 
den Zusammenhalt der Armee so bedeutsam sind, hier 
keine Stelle gefunden haben. Die Antwort darauf lautet, 
dies sei ein anderer, nicht mehr so einfacher Fall von 
Massenbindung, und wie die Beispiele großer Heerführer, 
Caesar, Wallenstein, Napoleon, zeigen, sind solche Ideen 
für den Bestand einer Armee nicht unentbehrlich. Von 

. dem möglichen Ersatz des Führers durch eine führende 
Idee und den Beziehungen zwischen beiden wird später 
kurz die Rede sein. Die Vernachlässigung dieses libidi- 
nösen Faktors in der Armee, auch dann, wenn er nicht 
der einzig wirksame ist, scheint nicht nur ein theoreti- 
scher Mangel, sondern auch eine praktische Gefahr. Der 
preußische Militarismus, der ebenso unpsychologisch war 
wie die deutsche Wissenschaft, hat dies vielleicht im 
großen Weltkrieg erfahren müssen. Die Kriegsneurosen, 
welche die deutsche Armee zersetzten, sind ja bekannt- 
lich als Protest des Einzelnen gegen die ihm in der Armee 



50 M^cssenpsychologie und Ich-Analyse 

zugemutete Rolle erkannt worden, und nach den Mit- 
teilungen von E. Simmel* darf man behaupten, daß die 
lieblose Behandlung des gemeinen Mannes durch seine 
Vorgesetzten obenan unter den Motiven der Erkrankung 
stand. Bei besserer Würdigung dieses Libidoanspruches 
hätten wahrscheinlich die phantastischen Versprechungen 
der 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten nicht so 
leicht Glauben gefunden und das großartige Instrument 
wäre den deutschen Kriegskünstlern nicht in der Hand 
zerbrochen. 

Merken wir an, daß in diesen beiden künstlichen 
Massen jeder Einzelne einerseits an den Führer 
(Christus, Feldherrn), andererseits an die anderen 
Massenindividuen libidinös gebunden ist. Wie sich 
diese beiden Bindungen zueinander verhalten, ob 
sie gleichartig und gleichwertig sind und wie sie 
psychologisch zu beschreiben wären, das müssen 
wir einer späteren Untersuchung vorbehalten. Wir 
, getrauen uns aber jetzt schon eines leisen Vorwurfes 
gegen die Autoren, daß sie die Bedeutung des Füh- 
rers für die Psychologie der Masse nicht genügend 
gewürdigt haben, während uns die Wahl des ersten 
Untersuchungsobjekts in eine günstigere Lage ge- 
bracht hat. Es will uns scheinen, als befänden wir 
uns auf dem richtigen Weg, der die Haupterschei- 
nung der Massenpsychologie, die Unfreiheit des 

* Kriegsnöurosen uiid „Psychisches Traaima'*, Müncbeai 1918. 



V. Zwei künstliche Massen: Kirdie und Heer 51 

Einzelnen in der Masse, aufklären kann. Wenn für 
jeden Einzelnen eine so ausgiebige Gefühlsbindung 
nach zwei Richtungen besteht, so wird es uns nicht 
schwer werden, aus diesem Verhältnis die beobach- 
tete Veränderung und Einschränkung seiner Persön- 
lichkeit abzuleiten. 

Einen Wink ebendahin, das Wesen einer Masse 
bestehe in den in ihr vorhandenen libidinösen Bin- 
dungen, erhalten wir auch in dem Phänomen der 
Panik, welches am besten an militärischen Massen 
zu studieren ist. Eine Panik entsteht, wenn eine 
solche Masse sich zersetzt. Ihr Charakter ist, daß 
kein Befehl des Vorgesetzten mehr angehört wird, 
und daß jeder für sich selbst sorgt ohne Rücksicht 
auf die anderen. Die gegenseitigen Bindungen haben 
aufgehört und eine riesengroße, sinnlose Angst wird 
frei. Natürlich wird auch hier wieder der Einwand 
naheliegen, es sei vielmehr umgekehrt, indem die 
Angst so groß gewachsen sei, daß sie sich über alle 
Rücksichten und Bindungen hinaussetzen konnte. 
M^ D o u g a 1 1 hat sogar (S. 24) den Fall der 
Panik (allerdings der nicht militärischen) als Muster- 
beispiel für die von ihm betonte Affektsteigerung 
durch Ansteckung (primary induction) verwertet. 
Allein diese rationelle Erklärungsweise geht hier 



52 Massenpsychologie und loh-Analyse 

doch ganz fehl. Es steht eben zur Erklärung, warum 
die Angst so riesengroß geworden ist. Die Oröße 
der Gefahr kann nicht beschuldigt werden, denn die- 
selbe Armee, die jetzt der Panik verfällt, kann ähnlich 
große und größere Gefahren tadellos bestanden 
haben, und es gehört geradezu zum Wesen der 
Panik, daß sie nicht im Verhältnis zur drohenden 
Gefahr steht, oft bei den nichtigsten Anlässen aus- 
bricht. Wenn der Einzelne in panischer Angst für 
sich selbst zu sorgen unternimmt, so bezeugt er da- 
mit die Einsicht, daß die affektiven Bindungen auf- 
gehört haben, die bis dahin die Gefahr für ihn herab- 
setzten. Nuii, da er der Gefahr allein entgegensteht, 
darf er sie allerdings höher einschätzen. Es verhält 
sich also so, daß die panische Angst die Locke- 
rung in der libidinösen Struktur der Masse voraus- 
setzt und in berechtigter Weise auf sie reagiert, nicht 
umgekehrt, daß die Libidobindungen der Masse an 
der Angst vor der Gefahr zugrunde gegangen wären. 

Mit diesen Bemerkungen wird der Behauptung, daß 
die Angst in der Masse durch Induktion (Ansteckung) ins 
Ungeheure wachse, keineswegs widersprochen. Die 
M^Dougairsche Auffassung ist durchaus zutreffend 
für den Fall, daß die Gefahr eine real große ist und daß in 
der Masse keine starken Qefühlsbindungen bestehen, 
Bedingungen, die verwirklicht werden, wenn z. B. in 



V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer 53 

einem Theater oder Unterhaltungslokal Feuer ausbricht. 
Der lehrreiche und für unsere Zwecke verwertete Fall 
ist der oben erwähnte, daß ein Heereskörper in Panik 
gerät, wenn die Gefahr nicht über das gewohnte und 
oftmals gut vertragene Maß hinaus gesteigert ist. Man 
wird nicht erwarten dürfen, daß der Gebrauch des 
Wortes „Panik" scharf und eindeutig bestimmt sei. 
Manchmal bezeichnet man so jede Massenangst, andere 
Male auch die Angst eines Einzelnen, wenn sie über jedes 
Maß hinausgeht, häufig scheint der Name für den Fall 
reserviert, daß der Angstausbruch durch den Anlaß nicht 
gerechtfertigt wird. Nehmen wir das Wort „Panik" im 
Sinne der Massenangst, so können wir eine weitgehende 
Analogie behaupten. Die Angst des Individuums wird her- 
vorgerufen entweder durch die Größe der Gefahr oder 
durch das Auflassen von Gefühlsbindungen (Libido- 
besetzungen) ; der letztere Fall ist der der neurotischen 
Angst. (S. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoana- 
lyse, XXV., 3. Aufl., 1920.) Ebenso entsteht die Panik 
durch die Steigerung der Alle betreffenden Gefahr oder 
durch das Aufhören der die Masse zusammenhaltenden 
Gefühlsbindungen, und dieser letzte Fall ist der neuroti- 
schen Angst analog. (Vgl. hiezu den gedankenreichen, 
etwas phantastischen Aufsatz von Bela v. Fel- 
szeghy: Panik und Pankomplex, „Imago", VI, 1920.) 
Wenn man die Panik wie M^Dougall (1. c.) 
als eine der deutlichsten Leistungen des „group mind" 
beschreibt, gelangt man zum Paradoxon, daß sich diese 
Massenseele in einer ihrer auffälligsten Äußerungen 
selbst aufhe))t. Es ist kein Zweifel mögUch, daß die Panik 
die Zersetzung der Masse bedeutet, sie hat das Aufhören 
aller Rücksichten zur Folge, welche sonst die Einzelnen 
der Masse für einander zeigen. 



54 Masse npsydiologle und loh-Analys« 

Der typische Anlaß für den Ausbruch einer 
Panik ist so ähnlich, wie er in der N e s t r o y'schen 
Parodie des Hebbel sehen Dramas von Judith 
und Holofernes dargestellt wird. Da schreit ein 
Krieger: „Der Feldherr hat den Kopf verloren", und 
darauf ergreifen alle Assyrer die Flucht. Der Verlust 
des Führers in irgend einem Sinne, das Irrewerden 
an ihm bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr 
zum Ausbruch; mit der Bindung an den Führer 
schwinden — in der Regel — auch die gegenseitigen 
Bindungen der Massenindividuen. Die Masse zer- 
stiebt wie ein Bologneser Fläschchen, dem man die 
Spitze abgebrochen hat. 

Die Zersetzung einer reügiösen Masse ist nicht 
so leicht zu beobachten. Vor kurzem geriet mir ein 
von katholischer Seite stammender, vom Bischof von 
London empfohlener englischer Roman in die Hand 
mit dem Titel: „When it was dark", der eine solche 
Möglichkeit und ihre Folgen in geschickter und, 
vde ich meine, zutreffender Weise ausmalte. Der 
Roman erzählt wie aus der Gegenwart, daß 
es einer Verschwörung von Feinden der Person 
"■ ■ ■■ nd des christlichen Glaubens gehngt, eine 
imer in Jerusalem auffinden zu lassen, 
1 Inschrift Josef von Arimathaa bekennt, 



V. Zw«i künstliche Massen: Kirche und Heer 55 

« 

daß er aus Gründen der Pietät den Leichnam 
Christi am dritten Tag nach seiner Beisetzung heim- 
lich aus seinem Grab entfernt und hier bestattet 
habe. Damit ist die Auferstehung Christi und seine 
göttliche Natur abgetan und die Folge dieser 
archäologischen fentdeckung ist eine Erschütterung 
der europäischen Kultur und eine außerordentliche 
Zunahme aller Gewalttaten und Verbrechen, die erst 
schwindet, nachdem das Komplott der Fälscher ent- 
hüllt werden kann. 

Was bei der hier angenommenen Zersetzung 
der religiösen Masse zum Vorschein kommt, ist nicht 
Angst, für welche der Anlaß fehlt, sondern rück- 
sichtslose und feindselige Impulse gegen andere 
Personen, die sich bis dahin dank der gleichen Liebe 
Christi nicht äußern konnten *. Außerhalb dieser 
Bindung stehen aber auch während des Reiches 
Christi jene Individuen, die nicht zur Glaubens- 
gemeinschaft gehören, die ihn nicht lieben und die 
er nicht liebt; darum muß eine Religion, auch wenn 
sie sich die Religion der Liebe heißt, hart und lieb- 
los gegen diejenigen sein, die ihr nicht angehören. 
Im Grunde ist ja jede Religion eine solche Reli- 

* Vgl. hiezu die Erklärung ähnlicher Phänomene nadi dem 
Wegfall der landesväterliohen Autorität bei P. Federn, Die vater- 
lose QeseJlschaTt, Wien, Anzengruber-Verlag, 1919. 



56 Massenpsycholosie und Ich-Anailyse 

gion der Liebe für alle, die sie umfaßt, und jeder 
liegt Grausamkeit und Intoleranz gegen die nicht 
dazugehörigen nahe. Man darf, so schwer es einem 
auch persönlich fällt, den Gläubigen daraus keinen 
zu argen Vorwurf machen; Ungläubige und Indif- 
ferente haben es in diesem Punkte psychologisch 
umso viel leichter. Wenn diese Intoleranz sich heute 
nicht mehr so gewalttätig und grausam kundgibt 
wie in früheren Jahrhunderten, so wird man daraus 
kaum auf eine Milderung in den Sitten der Men- 
schen schließen dürfen. Weit eher ist die Ursache 
davon in der unleugbaren Abschwächung der reli- 
giösen Gefühle und der von ihnen abhängigen libi- 
dinösen Bindungen zu suchen. Wenn eine andere 
Massenbindung an die Stelle der religiösen tritt, wie 
es jetzt der sozialistischen zu gelingen scheint, so 
wird sich dieselbe Intoleranz gegen die Außen^ 
stehenden ergeben wie im Zeitalter der Religions- 
kämpfe, und wenn die Differenzen wissenschaft- 
licher Anschauungen je eine ähnliche Bedeutung 
für die Massen gewinnen könnten, würde sich das- 
selbe Resultat auch für diese Motivierung wieder- 
holen. 



VI. 

m 

Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen. 

Wir haben bisher zwei artifizielle Massen unter- 
sucht und gefunden, daß sie von zweierlei Gefühls- 
bindungen beherrscht werden, von denen die eine an 
den Führer — wenigstens für sie — bestimmender 
zu sein scheint als die andere, die der Massenindi- 
viduen aneinander. 

Nun gäbe es in der Morphologie der Massen 
noch viel zu untersuchen und zu beschreiben. Man 
hätte von der Feststellung auszugehen, daß eine 
bloße Menschenmenge noch keine Masse ist, so 
lange sich jene Bindungen in ihr nicht hergestellt 
haben, hätte aber das Zugeständnis zu machen, daß 
in einer beliebigen Menschenmenge sehr leicht die 
Tendenz zur Bildung einer psychologischen Masse 
hervortritt. Man müßte den verschiedenartigen, mehr 
oder minder beständigen Massen, die spontan zu- 
stande kommen, Aufmerksamkeit schenken, die Be- 



58 Miassenpsychologle und Idi^nalyse 

dingungen ihrer Entstehung und ihres Zerfalls stu- 
dieren. Vor allem würde uns der Unterschied zwi- 
schen Massen, die einen Führer haben, und führer- 
losen Massen beschäftigen. Ob nicht die Massen mit 
Führer die ursprüngUcheren und vollständigeren 
sind, ob in den anderen der Fuhrer nicht durch eine 
Idee, ein Abstraktum ersetzt sein kann, wozu ja 
schon die religiösen Massen mit ihrem unaufzeig- 
baren Oberhaupt die Überleitung bilden, ob nicht 
eine gemeinsame Tendenz, ein Wunsch, an dem eine 
Vielheit Anteil nehmen kann, den nämlichen Ersatz 
leistet. Dieses Abstrakte könnte sich wiederum mehr 
oder weniger vollkommen in der Person eines gleich- 
sam sekundären Führers verkörpern, und aus der 
Beziehung zwischen Idee und Führer ergäben sich 
interessante Mannigfaltigkeiten. Der Fuhrer oder die 
führende Idee könnten auch sozusagen negativ wer- 
den; der Haß gegen eine bestimmte Person oder 
Institution könnte ebenso einigend wirken und ähn- 
hche Oefühlsbindungen hervorrufen wie die po- 
sitive Anhänglichkeit. Es fragte sich dann auch, ob 
der Führer für das Wesen der Masse wirklich un- 
u. a. m. 

11 diese Fragen, die zum Teil auch in der 
ler Massenpsychologie behandelt sein 



VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 59 

mögen, werden nicht imstande sein, unser Interesse 
von den psychologischen Orundproblemen abzu- 
lenken, die uns in der Struktur einer Masse geboten 
werden. Wir werden zunächst von einer Überlegung 
gefesselt, die uns auf dem kürzesten Weg den Nach- 
weis verspricht, daß es Libidobindungen sind, 
welche eine Masse charakterisieren. 

Wir halten uns vor, wie sich, die Menschen im 
allgemeinen affektiv zueinander verhalten. Nach dem 
berühmten Schopenhaue raschen Gleichnis von 
den frierenden Stachelschweinen verträgt keiner eine 
allzu intime Annäherung des anderen. 

„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an 
einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um durch 
die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu 
schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen 
Stacheln, welches sie dann wieder voneinander entfernte. 
Wenn nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder 
näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite 
Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin- und her- 
geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung heraus- 
gefunden hatten, in der sie es am besten aushalten 
konnten." (Parerga und Paralipomena, IL Teil, XXXI., 
Gleichnisse und Parabeln.) 

Nach dem Zeugnis der Psychoanalyse hinter- 
läßt fast jedes intime Gefühlsverhältnis zwischen 
zwei Personen von längerer Dauer — Ehebeziehung, 



60 M'assettjÄycbologie und Ich-Analyse 

Freundschaft, Eltern- und Kindschaft* — einen 
Bodensatz von ablehnenden, feindseligen Gefühlen, 
der erst durch Verdrängung beseitigt werden muß. 
Unverhüllter ist es, wenn jeder Kompagnon mit sei- 
nem Gesellschafter hadert, jeder Untergebene gegen 
seinen Vorgesetzten murrt. Dasselbe geschieht dann, 
wenn die Menschen zu größeren Emheiten zusam- 
mentreten. Jedesmal, wenn sich zwei Familien durch 
eine Eheschließung verbinden, hält sich jede von 
ihnen für die bessere oder vornehmere auf Kosten 
der anderen. Von zwei benachbarten Städten wird 
jede zur mißgünstigen Konkurrentin der anderen; 
jedes Kantönli sieht geringschätzig auf das andere 
herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen 
einander ab, der Süddeutsche mag den Norddeut- 
schen nicht leiden, der Engländer sagt dem Schotten 
alles Böse nach, der Spanier verachtet den Portu- 
giesen. Daß bei größeren Differenzen sich eine 
schwer zu überwindende Abneigung ergibt, des 
Galliers gegen den Germanen, des Ariers gegen den 
Semiten, des Weißen gegen den Farbigen, hat auf- 
gehört uns zu verwundern. 

• VieUeicht mit «inziger Ausnahme der Beziehung der Mutter 
zum Sohn, die auf Narzißmus gegründet, durch spätere Rivalität 
nicht gestört und durch einen Ansatz zur sexuellen Objektwalhl ver- 
stärkt wird. 



VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 61 

Wenn sich die Feindseligkeit gegen sonst ge- 
liebte Personen richtet, bezeichnen wir es als Oe- 
fühlsambivalenz und erklären uns diesen Fall in 
wahrscheinlich allzu rationeller Weise durch die 
vielfachen Anlässe zu Interessenkonflikten, die sich 
gerade in so intimen Beziehungen ergeben. In den 
unverhüllt hervortretenden Abneigungen und Ab- 
stoßungen gegen nahestehende Fremde können wir 
den Ausdruck einer Selbstliebe, eines Narzißmus, er- 
kennen, der seine Selbstbehauptung anstrebt und 
sich so benimmt, als ob das Vorkommen einer Ab- 
weichung von seinen individuellen Ausbildungen 
eine Kritik derselben und eine Aufforderung sie um- 
zugestalten mit sich brächte. Warum sich eine so 
große Empfindlichkeit gerade auf diese Einzelheiten 
der Differenzierung geworfen haben sollte, wissen 
wir nicht; es ist aber unverkennbar, daß sich in 
diesem ganzen Verhalten der Menschen eine Haß- 
bereitschaft, eine Aggressivität kundgibt, deren Her- 
kunft unbekannt ist, und der man einen elementaren 
Charakter zusprechen möchte. 

In einer kürzlich (1920) veröffentlichten Schrift 
„Jenseits des Lustprinzips" habe ich versucht, die Po- 
larität von Lieben und Hassen mit einem angenommenen 
Gegensatz von Lebens- und todestrieben zu verknüpfen, 



62 Massenpsychologie und lofi-Analyse 

und die Sexualtriebe als die reinsten Vertreter der 
ersteren, der Lebenstriebe, hinzustellen. 

Aber all diese Intoleranz schwindet, zeitweilig 
oder dauernd, durch die Massenbildung und in der 
Masse. Solange die Massenbildung anhält oder so- 
weit sie reichjt, benehmen sich die Individuen als 
wären sie gleichförmig, dulden sie die Eigenart des 
anderen, stellen sich ihm gleich und verspüren kein 
Gefühl der Abstoßung gegen ihn. Eine solche Ein- 
schränkung des Narzißmus kann nach unseren theo- 
retischen Anschauungen nur durch ein Moment er- 
zeugt werden, durch libidinöse Bindung an andere 
Personen. Die Selbstliebe findet nur an der Fremd- 
liebe, Liebe zu Objekten, eine Schranke*. Man wird 
sofort die Frage aufwerfen, ob nicht die Interessen- 
gemeinschaft, an und für sich und ohne jeden libidi- 
nösen Beitrag, zur Duldung des anderen und zur 
Rücksichtnahme auf ihn führen muß. Man wird 
diesem Einwand mit dem Bescheid begegnen, daß 
auf solche Weise eine bleibende Einschränkung des 
Narzißmus doch nicht zustande kommt, da diese To- 
leranz nicht länger anhält als der unmittelbare Vor- 
teil, den man aus der Mitarbeit des anderen zieht. 

• S. Zur Einführung des Narzißmus 1914, Sarnmiung kleiner 
Schriften zur N-eurosenl-ehre, vierte Folge 1918. 



VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 63 

Allein der praktische Wert dieser Streitfrage ist ge- 
ringer, als man meinen sollte, denn die Erfahrung 
hat gezeigt, daß sich im Falle der Mitarbeiterschaft 
regelmäßig libidinöse Bedingungen zwischen den 
Kameraden herstellen, welche die Beziehung zwi- 
schen ihnen über das Vorteilhafte hinaus verlängern 
und fixieren. Es geschieht in den sozialen Beziehun- 
gen der Menschen dasselbe, was der psychoanalyti- 
schen Forschung in dem Entwicklungsgang der indi- 
viduellen Libido bekannt geworden ist. Die Libido 
lehnt sich an die Befriedigung der großen Lebens- 
bedürfnisse an und wählt die daran beteiligten Per- 
sonen zu ihren ersten Objekten. Und wie beim Ein- 
zelnen, so hat auch in der Entwicklung der ganzen 
Menschheit nur die Liebe als Kulturfaktor im Sinne 
einer Wendung vom Egoismus zum Altruismus ge- 
wirkt. Und zwar. sowohl die geschlechtliche Liebe 
zum Weibe mit all den aus ihr fließenden Nötigun- 
gen das zu verschonen, was dem Weibe lieb war, 
als auch die desexualisierte, sublimiert homosexuelle 
Liebe zum anderen Manne, die sich aus der gemein- 
samen Arbeit ergab. 

Wenn also in der Masse Einschränkungen der 
narzißtischen Eigenliebe auftreten, die außerhalb der- 
selben nicht wirken, so ist dies ein zwingender Hin- 

5* 



64 Massenpsychologie und Ich-A<na1yse 

weis darauf, daß das Wesen der Massenbildung in 
neuartigen libidinösen Bindungen der Massenmit- 
glieder aneinander besteht. 

Nun wird aber unser Interesse dringend fra- 
gen, welcher Art diese Bindungen in der Masse sind. 
In der psychoanalytischen Neurosenlehre haben wir 
uns bisher fast ausschließlich mit der Bindung sol- 
cher Liebestriebe an ihre Objekte beschäftigt, die 
noch direkte Sexualziele verfolgen. Um solche Sexual- 
ziele kann es sich in der Masse offenbar nicht han- 
deln. Wir haben es hier mit Liebestrieben zu tun, 
die ohne darum minder energisch zu wirken, doch 
von ihren ursprünglichen Zielen abgelenkt sind. Nun 
haben wir bereits im Rahmen der gewöhnlichen 
sexuellen Objektbesetzung Erscheinungen bemerkt, 
die einer Ablenkung des Triebs von seinem Sexual- 
ziel entsprechen. Wir haben sie als Grade von Ver- 
liebtheit beschrieben und erkannt, daß sie eine ge- 
wisse Beeinträchtigung des Ichs mit sich bringen. 
Diesen Erscheinungen der Verliebtheit werden wir 
jetzt eingehendere Aufmerksamkeit zuwenden, in der 
begründeten Erwartung, an ihnen Verhältnisse zu 
finden, die sich auf die Bindungen in den Massen 
übertragen lassen. Außerdem möchten wir aber 
wissen, ob diese Art der Objektbesetzung, wie wir 



VI. Weitere Aufgaben und Arbeitsrichtungen 65 

sie aus dem Geschlechtsleben kennen, die einzige 
Weise der Oefühlsbindung an eine andere Person 
darstellt, oder ob wir noch andere solche Mecha- 
nismen in Betracht zu ziehen haben. Wir erfahren 
tatsächlich aus der Psychoanalyse, daß es noch an- 
dere Mechanismen der Oefühlsbindung gibt, die so- 
genannten Identifizierungen, ungenügend 
bekannte, schwer darzustellende Vorgänge, deren 
Untersuchung uns nun eine gute Weile vom Thema 
der Massenpsychologie fernhalten wird. 



VII. 



Die Identifizierung. 

Die Identifizierung ist der Psychoanalyse als 
früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine 
andere Person bekannt. Sie spielt in der Vor- 
geschichte des Ödipuskomplexes eine Rolle. Der 
kleine Knabe legt ein besonderes Interesse für seinen 
Vater an den Tag, er möchte so werden und so sein 
wie er, in allen Stücken an seine Stelle treten. Sagen 
wir ruhig: er nimmt den Vater zu seinem Ideal. 
Dies Verhalten hat nichts mit einer passiven oder 
femininen Einstellung zum Vater (und zum Manne 
überhaupt) zu tun, es ist vielmehr exquisit männlich. 
Es verträgt sich sehr wohl mit dem Ödipuskomplex, 
den es vorbereiten hilft. 

Gleichzeitig mit dieser Identifizierung mit dem 
Vater oder etwas später, hat der Knabe begonnen, 
eine richtige Objektbesetzung der Mutter nach dem 
Anlehnungstypus vorzunehmen. Er zeigt also dann 



VII. Die Identifizierung 67 

zwei psychologisch verschiedene Bindungen, zur 
Mutter eine glatt sexuelle Objektbesetzung, zum 
Vater eine vorbildliche Identifizierung. Die beiden 
bestehen eine Weile nebeneinander, ohne gegen- 
seitige Beeinflussung oder Störung. Infolge der 
unaufhaltsam fortschreitenden Vereinheitlichung des 
Seelenlebens treffen sie sich endlich und durch dies 
Zusammenströmen entsteht der normale Ödipus- 
komplex. Der Kleine merkt, daß ihm der Vater bei 
der Mutter im Wege steht; seine Identifizierung mit 
dem Vater nimmt jetzt eine feindselige Tönung an 
und wird mit dem Wunsch identisch, den Vater 
auch bei der Mutter zu ersetzen. Die Identifizierung 
ist eben von Anfang an ambivalent, sie kann sich 
ebenso zum Ausdruck der Zärtlichkeit wie zum 
Wunsch der Beseitigung wenden. Sie benimmt sich 
wie ein Abkömmling der ersten oralen Phase der 
Libidoorganisation, in welcher man sich das 
begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einver- 
leibte und es dabei als solches vernichtete. Der 
Kannibale bleibt bekanntlich auf diesem Standpunkt 
stehen; er hat seine Feinde zum Fressen lieb, und er 
frißt nur die, die er lieb hat *. 



* S. Drei AbhandluiiKen zur Sexuaitilieorie .und Abraham: 
„Untersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe 



68 Massenpsycholagie und Ich-Anatyse 

Das Schicksal dieser Vateridentifizierung ver- 
liert man später leicht aus den Augen. Es kann dann 
geschehen, daß der Ödipuskomplex eine Umkeh- 
rung erfährt, daß der Vater in femininer Einstellung 
zum Objekte genommen wird, von dem die direkten 
Sexualtriebe ihre Befriedigung erwarten, und dann 
ist die Vateridentifizierung zum Vorläufer der Ob- 
jektbindung an den Vater geworden. Dasselbe gilt 
mit den entsprechenden Ersetzungen auch für die 
kleine Tochter. 

Es ist leicht, den Unterschied einer solchen 
Vateridentifizierung von einer Vaterobjektwahl in 
einer Formel auszusprechen. Im ersten Falle ist der 
Vater das, was man sein, im zweiten das, was man 
haben möchte. Es ist also der Unterschied, ob die 
Bindung am Subjekt oder am Objekt des Ichs an- 
greift. Die erstere ist darum bereits vor jeder 
sexuellen Objektwahl möglich. Es ist weit schwie- 
riger, diese Verschiedenheit metapsychologisch an- 
schauHch darzustellen. Man erkennt nur, die Identi- 
fizierung strebt danach, das eigene Ich ähnlich zu 
gestalten wie das andere zum „Vorbild" genom- 
mene. 

der Libido". Infern. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IV. 1916, auch in 
dessen „Klinische Beiträ-ge zur Psychoanalyse." Intern, psychoanalyt. 
Bibliothek, Bd. 10, 1921. 



VII. Die Identifizterung. 69 

Aus einem, verwickeiteren Zusammenhange 
lösen wir die Identifizierung bei einer neurotischen 
Symptombildung. Das kleine Mädchen, an das wir 
uns jetzt halten wollen, bekomme dasselbe Leidens- 
symptom wie seine Mutter, z. B. denselben quälenden 
Husten. Das kann nun auf verschiedenen Wegen 
zugehen. Entweder ist die Identifizierung dieselbe 
aus dem Ödipuskomplex, die ein feindseliges Er- 
setzenwollen der Mutter bedeutet, und das Symptom 
drückt die ObjektUebe zum Vater aus; es realisiert 
die Ersetzung der Mutter unter dem Einfluß des 
Schuldbewußtseins: Du hast die Mutter sein wollen, 
jetzt bist du's wenigstens im Leiden. Das ist dann 
der komplette Mechanismus der hysterischen Sym- 
ptombildung. Oder aber, das Symptom ist dasselbe 
wie das der geUebten Person (so wie z. B. Dora im 
„Bruchstück einer Hysterieanalyse" den^ Husten des 
Vaters imitiert); dann können wir den Sachverhalt 
nur so beschreiben, dieldentifizierungsei 
an Stelle der Objektwahl getreten, 
die Objektwahl sei zur Identifizie- 
rung regrediert. Wir haben gehört, daß die 
Identifizierung die früheste und ursprünglichste 
Form der Gefühlsbindung ist; unter den Verhält- 
nissen der Symptombildung, also der Verdrängung, 



70 Massenpsychologie und Ich-Analyse 

und der Herrschaft der Meclftnismen des Unbe- 
wußten kommt es oft vor, daß die Objektwahl wie- 
der zur Identifizierung wird, also das Ich die Eigen- 
schaften des Objekts an sich nimmt. Bemerkenswert 
ist es, daß das Ich bei diesen Identifizierungen das 
eine Mal die ungeliebte, das andere Mal aber die 
geliebte Person kopiert. Es muß uns auch auffallen, 
daß beide Male die Identifizierung eine partielle, 
höchst beschränkte ist, nur einen einzigen Zug von 
der Objektperson entlehnt. 

Es ist ein dritter, besonders häufiger und be- 
deutsamer Fall der Symptombildung, daß die Iden- 
tifizierung vom Objektverhältnis zur kopierten Per- 
son ganz absieht. Wenn z. B. eines der Mädchen 
im Pensionat einen Brief vom geheim Geliebten 
bekommen hat, der ihre Eifersucht erregt, und auf 
den sie mit einem hysterischen Anfall reagiert, so 
werden einige ihrer Freundinnen, die darum wissen, 
diesen Anfall übernehmen, wie wir sagen, auf dem 
Wege der psychischen Infektion. Der Mechanismus 
ist der der Identifizierung auf Grund des sich in 
dieselbe Lage Versetzenkönnens oder Versetzen- 
wollens. Die anderen möchten auch ein geheimes 
Liebesverhältnis haben und akzeptieren unter dem 
Einfluß des Schuldbewußtseins auch das damit ver- 



VII. Die Wettüfizierung. 71 

bundene Leid. Es wäre unrichtig, zu behaupten, 
sie eignen sich das Symptom aus Mitgefühl an. Im 
Gegenteil, das Mitgefühl entsteht erst aus der Iden- 
tifizierung, und der Beweis hiefür ist, daß sich solche 
Infektion oder Imitation auch unter Umständen her- 
stellt, wo noch geringere vorgängige Sympathie 
zwischen beiden anzunehmen ist, als unter Pen- 
sionsfreundinnen zu bestehen pflegt. Das eine Ich 
hat am anderen eine bedeutsame Analogie in einem 
Punkte wahrgenommen, in unserem Beispiel in der 
gleichen Oefühlsbereitschaft, es bildet sich darauf- 
hin eine Identifizierung in diesem Punkte, und unter 
dem Einfluß der pathogenen Situation verschiebt 
sich diese Identifizierung zum Symptom, welches 
das eine Ich produziert hat. Die Identifizierung 
durch das Symptom wird so zum Anzeichen für 
eine Deckungsstelle der beiden Ich, die verdrängt 
gehalten werden soll. 

Das aus diesen drei Quellen Gelernte können 
wir dahin zusammenfassen, daß erstens die Iden- 
tifizierung die ursprünglichste Form der Gefühls- 
bindung an ein Objekt ist, zweitens daß sie auf 
regressivem Wege zum Ersatz für eine libidinöse 
Objektbindung wird, gleichsam durch Introjektion 
des Objekts ins Ich, und daß sie drittens bei jeder 



72 Massenpsychologie und loh-Analys^ 

neu wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit einer 
Person, die nicht Objekt der Sexualtriebe ist, ent- 
stehen kann. Je bedeutsamer diese Gemeinsamkeit 
ist, desto erfolgreicher muß diese partielle Identi- 
fizierung werden können und so dem Anfang einer 
neuen Bindung entsprechen. 

Wir ahnen bereits, daß die gegenseitige Bin- 
dung der Massenindividuen von der Natur einer 
solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive 
Gemeinsamkeit ist, und können vermuten, diese Ge- 
meinsamkeit liege in der Art der Bindung an den 
Führer. Eine andere Ahnung kann uns sagen, daß 
wir weit davon entfernt sind, das Problem der Iden- 
tifizierung erschöpft zu haben, daß wir vor dem 
Vorgang stehen, den die Psychologie „Einfühlung" 
heißt, und der den größten Anteil an unserem Ver- 
ständnis für das Ichfremde anderer Personen hat. 
Aber wir wollen uns hier auf die nächsten affektiven 
Wirkungen der Identifizierung beschränken und 
ihre Bedeutung für unser intellektuelles Leben bei- 
seite lassen. 

Die psychoanalytische Forschung, die ge- 
legentlich auch schon die schwierigeren Probleme 
der Psychosen in Angriff genommen hat, konnte uns 
auch die Identifizierung in einigen anderen Fällen 



VII. Die Identifizierung 73 

aufzeigen, die unserem Verständnis nicht ohne wei- 
teres zugänglich sind. Ich werde zwei dieser Fälle 
als Stoff für unsere weiteren Überlegungen ausführ- 
lich behandeln. 

Die Genese der männlichen Homosexualität ist 
in einer großen Reihe von Fällen die folgende: Der 
junge Mann ist ungewöhnlich lange und intensiv 
im Sinne des Ödipuskomplexes an seine Mutter 
fixiert gewesen. Endlich kommt doch nach vollen- 
deter Pubertät die Zeit, die Mutter gegen ein anderes 
Sexualobjekt zu vertauschen. Da geschieht eine plötz- 
liche Wendung; der Jüngling verläßt nicht seine 
Mutter, sondern identifiziert sich mit ihr, er wandelt 
sich in sie um und sucht jetzt nach Objekten, die 
ihm sein Ich ersetzen können, die er so lieben und 
pflegen kann, wie er es von der Mutter erfahren 
hatte. Dies ist ein häufiger Vorgang, der beliebig 
oft bestätigt werden kann und natürlich ganz un- 
abhängig von jeder Annahme ist, die man über die 
organische Triebkraft und die Motive jener plötz- 
lichen Wandlung macht. Auffällig an dieser Iden- 
tifizierung ist ihre Ausgiebigkeit, sie wandelt das 
Ich in einem höchst wichtigen Stück, im Sexual- 
charakter, nach dem Vorbild des bisherigen Objekts 
um. Dabei wird das Objekt selbst aufgegeben, ob 



74 Massenpsychologie und Ich-Analyse 

durchaus oder nur in dem Sinne, daß es im Un- 
bewußten erhalten bleibt, steht hier außer Diskus- 
sion. Die Identifizierung mit dem aufgegebenen oder 
verlorenen Objekt zum Ersatz desselben, die Intro- 
jektion dieses Objekts ins Ich, ist für uns allerdings 
keine Neuheit mehr. Ein solcher Vorgang läßt sich 
gelegentlich am kleinen Kind unmittelbar beobach- 
ten. Kürzlich wurde in der Internationalen Zeitschrift 
für Psychoanalyse eine solche Beobachtung ver- 
öffentlicht, daß ein Kind, das unglücklich über den 
Verlust eines Kätzchens war, frischweg erklärte, es 
sei jetzt selbst das Kätzchen, dem entsprechend auf 
allen Vieren kroch, nicht am Tische essen wollte 
usw.* 

Ein anderes Beispiel von solcher Introjektion 
des Objekts hat uns die Analyse der Melancholie 
gegeben, welche Affektion ja den realen oder affek- 
tiven Verlust des geliebten Objekts unter ihre auf- 
fälligsten Veranlassungen zählt. Ein Hauptcharakter 
dieser Fälle ist die grausame Selbstherabsetzung des 
Ichs in Verbindung mit schonungsloser Selbstkritik 
und bitteren Selbstvorwürfen. Analysen haben er- 
geben, daß diese Einschätzung und diese Vorwürfe 

• Markuszewlcz, Beitrag zum autistischen Denken bei 
Kindern. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. VI., 1920. 



VII. Die Identifizierung 75 

im Grunde dem Objekt gelten und die Rache des 
Ichs an diesem darstellen. Der Schatten des Objekts 
ist auf das Ich gefallen, sagte ich an anderer Stelle. 
Die Introjektion des Objekts ist hier von unverkenn- 
barer Deutlichkeit. 

Diese Melancholien zeigen uns aber noch etwas 
anderes, was für unsere späteren Betrachtungen 
wichtig werden kann. Sie zeigen uns das Ich ge- 
teilt, in Ziwei Stücke zerfällt, von denen das eine 
gegen das andere wütet. Dies andere Stück ist das 
durch Introjektion veränderte, das das verlorene 
Objekt einschließt. Aber auch das Stück, das sich 
so grausam betätigt, ist uns nicht unbekannt. Es 
schließt das Gewissen ein, eine kritische Instanz im 
Ich, die sich auch in normalen Zeiten dem Ich kritisch 
gegenübergestellt hat, nur niemals so unerbittlich 
und so ungerecht. Wir haben schon bei früheren 
Anlässen die Annahme machen müssen (Narzißmus, 
Trauer und MelanchoHe), daß sich in unserem Ich 
eine solche Instand entwickelt, welche sich vom an- 
deren Ich absondern und in Konflikte mit ihm ge- 
raten kann. Wir nannten sie das „Ichideal" und 
schrieben ihr an Funktionen die Selbstbeobachtung, 
das moralische Gewissen, die Traumzensur und den 
Haupteinfluß bei der Verdrängung zu. Wir sagten. 



76 Massenpsychologie und Ich-Analyse 

sie sei der Erbe des ursprünglichen Narzißmus, in 
dem das kindliche Ich sich selbst genügte. Allmäh- 
lich nehme sie aus den Einflüssen der Umgebung 
die Anforderungen auf, die diese an das Ich stelle, 

denen das Ich nicht immer nachkommen könne, so 

« 

daß der Mensch, wo er mit seinem Ich selbst nicht 
zufrieden sein kann, doch seine Befriedigung in dem 
aus dem Ich differenzierten Ichideal finden dürfe. 
Im Beobachtungswahn, stellten wir ferner fest, 
werde der Zerfall dieser Instanz offenkundig und 
dabei ihre Herkunft aus den Einflüssen der Autori- 
täten, voran der Eltern, aufgedeckt*. Wir haben aber 
nicht vergessen anzuführen, daß das Maß der Ent- 
fernung dieses Ichideals vom aktuellen Ich für das 
einzelne Individuum sehr variabel ist, und daß bei 
vielen diese Differenzierung innerhalb des Ichs nicht 
weiter reicht als beim Kinde. 

Ehe wir aber diesen Stoff zum Verständnis der 
libidinösen Organisation einer Masse verwenden 
können, müssen wir einige andere der Wechsel- 
beziehungen zwischen Objekt und Ich in Betracht 
ziehen. 

Wir wissen sehr gut, daß wir mit diesen der Patho- 
logie entnommenen Beispielen das Wesen der Identi- 

* Zur Einführung des Narzißmus, 1. c. 



VII. Die Identifizienms: 77 

fizierung nicht erschöpft haben und somit am Rätsel der 
Massenbildung ein Stück unangerührt lassen. Hier müßte 
eine viel gründlichere und mehr umfassende psycho- 
logische Analyse eingreifen. Von der Identifizierung führt 
ein Weg über die Nachahmung zur Einfühlung, d. h. ztun 
Verständnis des Mechanismus, durch den uns überhaupt 
eine Stellungnahme zu einem anderen Seelenleben er- 
möglicht wird. Auch an den Äußerungen einer bestehen- 
den Identifizierung ist noch vieles aufzuklären. Sie hat 
unter anderem die Folge, daß man die Aggression gegen 
die Person, mit der man sich identifiziert hat, einschränkt, 
sie verschont und ihr Hilfe leistet. Das Studium solcher 
Identifizierungen, wie sie z. B. der Clangemeinschaft 
zugrunde liegen, iergab Robertson Smith das 
überraschende Resultat, daß sie auf der Anerkennung 
einer gemeinsamen Substanz beruhen (Kinship and Mar- 
riage, 1885), daher auch durch eine gemeinsam genom- 
mene Mahlzeit geschaffen werden können. Dieser Zug 
gestattet es, eine solche Identifizierung mit der von mir 
in „Totem und Tabu" konstruierten Urgeschichte der 
menschlichen Familie zu verknüpfen. 



6 



VIIL 
Verliebtheit und Hypnose. 

Der Sprachgebrauch bleibt selbst in seinen 
Launen irgend einer Wirklichkeit treu. So nennt er 
zwar sehr mannigfaltige Gefühlsbeziehungen „Liebe", 
die auch wir theoretisch als Liebe zusammenfassen, 
zweifelt aber dann wieder, ob diese Liebe die eigent- 
liche, richtige, wahre sei, und deutet so auf eine ganze 
Stufenleiter von Möglichkeiten innerhalb der Liebes- 
phänomene hin. Es wird uns auch nicht schwer, die- 
selbe in der Beobachtung aufzufinden. 

In einer Reihe von Fällen ist die Verliebtheit 
nichts anderes als Objektbesetzung von Seiten der 
Sexualtriebe zum Zweck der direkten Sexualbefrie- 
digung, die auch mit der Erreichung dieses Zieles 
erlischt; das ist das, was man die gemeine, sinnliche 
Liebe heißt. Aber wie bekannt, bleibt die libidinöse 
Situation selten so einfach. Die Sicherheit, mit der 
man auf das Wiedererwachen des eben erloschenen 



VIII. Verliebtlielt und Hypnose 79 

Bedürfnisses rechnen konnte, muß wohl das nächste 
Motiv gewesen sein, dem Sexualobjekt eine dauernde 
Besetzung zuzuwenden, es auch in den begierde- 
freien Zwischenzeiten zu „lieben". 

Aus der sehr merkwürdigen Entwicklungs- 
geschichte des menschlichen Liebeslebens kommt ein 
zweites Moment hinzu. Das Kind hatte in der ersten, 
mit fünf Jahren meist schon abgeschlossenen Phase 
in einem Eltemteil ein erstes Liebesobjekt gefunden, 
auf welches sich alle seine Befriedigimg heischenden 
Sexualtriebe vereinigt hatten. Die dann eintretende 
Verdrängung erzwang den Verzicht auf die meisten 
dieser kindlichen Sexualziele und hinterließ eine tief- 
greifende Modifikation des Verhältnisses zu den 
Eltern. Das Kind blieb fernerhin an die Eltern ge- 
bunden, aber mit Trieben, die man „zielgetiemmte" 
nennen muß. Die Gefühle, die es von nun an für 
diese geliebten Personen empfindet, werden als 
„zärtliche" bezeichnet. Es ist bekannt, daß im Un- 
bewußten die früheren „sinnlichen" Strebungen 
mehr oder minder stark erhalten bleiben, so daß 
die ursprüngliche Vollströmung in gewissem Sinne 
weiterbesteht*. 

Mit der Pubertät setzen bekanntlich neue sehr 

* S. Sexualtiheorie l c, 

6* 



80 Massei]psychd.02ie und Ich-Analyse 

intensive Strebungen nach den direkten Sexualziefen 
an. In ungünstigen Fällen bleiben sie als sinnliche 
Strömung von den fortdauernden ,,zärtlichen" Ge- 
fühlsrichtungen geschieden. Man hat dann das Bild 
vor sich, dessen beide Ansichten von gewissen Rich- 
tungen der Literatur so gerne idealisiert werden. 
Der Mann zeigt schwärmerische Neigungen zu hoch- 
geachteten Frauen, die ihn aber zum Liebesverkehr 
nicht reizen, und ist nur potent gegen andere Frauen, 
die er nicht „liebt", geringschätzt oder selbst ver- 
achtet *. Häufiger indes gelingt dem Heranwachsen- 
den ein gewisses Maß von Synthese der unsinn- 
lichen, himmlischen und der sinnlichen, irdischen 
Liebe, und ist sein Verhältnis zum Sexualobjekt 
durch das Zusammenwirken von imgehemmten mit 
zielgehemmten Trieben gekennzeichnet^ Nach dem 
Beitrag der zielgehemmten Zärtüchkeitstriebe kann 
man die Höhe der Verliebtheit im Gegensatz zum 
bloß sinnlichen Begehren bemessen. 

Im Rahmen dieser Verliebtheit ist uns von An- 
fang an das Phänomen der Sexualüberschätzung auf- 
gefallen, die Tatsache, daß das geliebte Objekt eine 
gewisse Freiheit von der Kritik genießt, daß alle 

• über die alteenuelnste Erniedrigung des Liebestebeirs. Samm- 
lung, 4. Folge, 1918. 



VIII. Verliebtheit und Hyimose 81 

seine Eigenschaften höher eingeschätzt werden als 
die ungeliebter Personen oder als zu einer Zeit, da 
es nicht geliebt wurde. Bei einigermaßen wirksamer 
Verdrängung oder Zurücksetzung der sinnlichen 
Strebungen kommt die Täuschung zustande, daß das 
Objekt seiner seelischen Vorzüge wegen auch sinn- 
lich geliebt wird, während umgekehrt erst das sinn- 
liche Wohlgefallen ihm diese Vorzüge verliehen 
haben mag. 

Das Bestreben, welches hier das Urteil fälscht, 
ist das der Idealisierung. Damit ist uns aber 
die Orientierung erleichtert; wir erkennen, daß das 
Objekt so behandelt wird wie das eigene Ich, daß also 
in der Verliebtheit ein größeres Maß narzißtischer 
Libido auf das Objekt überfließt. Bei manchen For- 
men der Liebeswahl wird es selbst augenfällig, daß 
das Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes 
Ichideal zu ersetzen. Man liebt es wegen der Voll- 
kommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt 
hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur 
Befriedigung seines Narzißmus verschaffen möchte. 

Nehmen Sexualüberschätzung und Verliebtheit 
noch weiter zu, so wird die Deutung des Bildes 
immer unverkennbarer. Die auf direkte Sexualbefrie- 
digung drängenden Strebungen können nun ganz 



82 Massei]3>sychologie und Ich-Analyse 

zurückgedrängt werden, wie es z. B. regelmäßig 
bei der schwärmerischen Liebe des Jünglings ge- 
schieht; das Ich wird immer anspruchsloser, beschei- 
dener, das Objekt immer großartiger, wertvoller; 
es gelangt schließlich in den Besitz der gesamten 
Selbstliebe des Ichs, so daß dessen Selbstaufopferung 
zur natürlichen Konsequenz wird. Das Objekt hat 
das Ich sozusagen aufgezehrt. Züge von Demut, 
Einschränkung des Narzißmus, Selbstschädigung 
sind in jedem Falle von Verliebtheit vorhanden; im 
extremen Falle werden sie nur gesteigert und durch 
das Zurücktreten der sinnlichen Ansprüche bleiben 
sie alleinherrschend. 

Dies ist besonders leicht bei unglücklicher, un- 
erfüllbarer Liebe der Fall, da bei jeder sexuellen Be- 
friedigung doch die Sexualüberschätzung immer 
wieder eine Herabsetzung erfährt. Gleichzeitig mit 
dieser „Hingabe" des Ichs an das Objekt, die sich 
von der sublimierten Hingabe an eine abstrakte Idee 
schon nicht mehr unterscheidet, versagen die dem 
Ichideal zugeteilten Funktionen gänzlich. Es schweigt 
die Kritik, die von dieser Instanz ausgeübt wird; 
alles was das Objekt tut und fordert, ist recht und 
untadelhaft. Das Gewissen findet keine Anwendung 
auf alles, was zugunsten des Objekts geschieht; 



VIII. Verliobtlieit wad Hypnose 83 

in der Liebesverblendung wird man reuelos zum 
Verbrecher. Die ganze Situation läßt sich restlos in 
eine Formel zusammenfassen: Das Objekt hat 
sich an dieStelle des Ichideals ge- 
setzt. 

Der Unterschied der Identifizierung von der 
Verliebtheit in ihren höchsten Ausbildungen, die man 
Faszination, verliebte Hörigkeit heißt, ist nun leicht 
zu beschreiben. Im ersteren Falle hat sich das Ich 
um die Eigenschaften des Objekts bereichert, sich 
dasselbe nach Ferenczi's Ausdruck „introji- 
ziert"; im zweiten Fall ist es verarmt, hat sich dem 
Objekt hingegeben, dasselbe an die Stelle seines 
wichtigsten Bestandteils gesetzt. Indes merkt man 
bei näherer Erwägung bald, daß eine solche Dar- 
stellung Gegensätze vorspiegelt, die nicht bestehen. 
Es handelt sich ökonomisch nicht um Verarmung 
oder Bereicherung, man kann auch die extreme Ver- 
liebtheit so beschreiben, daß das Ich sich das Objekt 
introjiziert habe. Vielleicht trifft eine andere Unter- 
scheidung eher das Wesentliche. Im Falle der Iden- 
tifizierung ist das Objekt verloren gegangen oder 
aufgegeben worden; es wird dann im Ich wieder 
aufgerichtet, das Ich verändert sich partiell nach dem 
Vorbild des verlorenen Objekts. Im anderen Falle 



84 Massenpsycbolosie und loh-Analyse 

ist das Objekt erhalten geblieben und wird als sol- 
ches von Seiten und auf Kosten des Ichs überbesetzt. 
Aber auch hiegegen erhebt sich ein Bedenken. Steht 
es denn fest, daß die Identifizierung das Aufgeben 
der Objektbesetzung voraussetzt, kann es nicht 
Identifizierung bei erhaltenem Objekt geben? Und 
ehe wir uns in die Diskussion dieser heikein Frage 
einlassen, kann uns bereits die Einsicht aufdämmern, 
daß eine andere Alternative das Wesen dieses Sach- 
verhalts in sich faßt, nämlich ob da&Objekt an 
die Stelle des Ichs oder des Ichideals 
gesetztwird. 

Von der Verliebtheit ist offenbar kein weiter 
Schritt zur Hypnose. Die Übereinstimmungen beider 
sind augenfällig. Dieselbe demütige Unterwerfung, 
Gefügigkeit, Kritiklosigkeit gegen den Hypnotiseur 
wie gegen das geliebte Objekt. Dieselbe Aufsaugung 
der eigenen Initiative; kein Zweifel, der Hypnotiseur 
ist an die Stelle des Ichideals getreten. Alle Verhält- 
nisse sind in. der Hypnose nur noch deutlicher und 
gesteigerter, so daß es zweckmäßiger wäre, die Ver- 
liebtheit durch die Hypnose zu erläutern als um- 
gekehrt. Der Hypnotiseur ist das einzige Objekt, 
kein anderes wird neben ihm beachtet. Daß das Ich 
traumhaft erlebt, was er fordert und behauptet, 



VIIL Verliebtheit und Hypnose 85 

mahnt uns daran, daß wir verabsäumt haben, unter 
den Funktionen des Ichideals auch die Ausübung der 
Realitätsprüfung zu erwähnen*. Kein Wunder, daß 
das Ich eine Wahrnehmung für real hält, wenn die 
sonst mit der Aufgabe der Realitätsprüfung betraute 
psychische Instanz sich für diese Realität einsetzt. 
Die völlige Abwesenheit von Strebungen mit un- 
gehemmten Sexualzielen trägt zur extremen Reinheit 
der Erscheinungen weiteres bei. Die hypnotische 
Beziehung ist eine uneingeschränkte verliebte Hin- 
gabe bei Ausschluß sexueller Befriedigung, während 
eine solche bei der Verliebtheit doch nur zeitweilig 
zurückgeschoben ist und als spätere ZielmögUchkeit 
im Hintergrunde verbleibt. 

Anderseits können wir aber auch sagen, die 
hypnotische Beziehung sei — wenn dieser Ausdruck 
gestattet ist — eine Massenbildung zu zweien. Die 
Hypnose ist kein gutes Vergleichsobjekt mit der 
Massenbildung, weil sie vielmehr mit dieser identisch 
ist. Sie isoliert uns aus dem komplizierten Gefüge 
der Masse ein Element, das Verhalten des Massen- 
Individuums zum Führer. Durch diese Einschrän- 
kung der Zahl scheidet sich die Hypnose von der 

* S. Metapsychobgisch'e Ergänzung zur Traumlehre. Samm- 
lung kleiner Schriften zur NeurosemleihTe, Vierte Folge, 1918. 



B6 Massenpsycholosie und loh-Analyse 

Massenbildung, wie durch den Wegfall der direkt 
sexuellen Strebungen von der Verliebtheit, Sie hält 
insoferne die Mitte zwischen beiden. 

Es ist interessant zu sehen, daß gerade die ziel- 
gehemmten Sexualstrebungen so dauerhafte Bindun- 
gen der Menschen aneinander erzielen. Dies versteht 
sich aber leicht aus der Tatsache, daß sie einer vollen 
Befriedigung nicht fähig sind, während ungehemmte 
Sexualstrebungen durch die Abfuhr bei der Errei- 
chung des jedesmaligen Sexualziels eine außer- 
ordentUche Herabsetzung erfahren. Die sinnliche 
Liebe ist dazu bestimmt, in der Befriedigung zu 
erlöschen; um andauern zu können, muß sie mit 
rein zärtlichen, d. h. zielgehemmten Komponenten 
von Anfang an versetzt sein oder eine solche Um- 
setzung erfahren. 

Die Hypnose würde uns das Rätsel der libidi- 
nösen Konstitution einer Masse glatt lösen, wenn 
sie selbst nicht noch Züge enthielte, die sich der bis- 
herigen rationellen Aufklärung — als Verliebtheit 
bei Ausschluß direkt sexueller Strebungen — ent- 
ziehen. Es ist noch vieles an ihr als unverstanden, 
als mystisch anzuerkennen. Sie enthält einen Zusatz 
von Lähmung aus dem Verhältnis eines Übermäch- 
tigen zu einem Ohnmächtigen, Hilflosen, was etwa 



VIII. Vedkötfaeit und Hypnose 87 

zur Schreckhypnose der Tiere ' überleitet. Die Art, 
wie sie erzeugt wird, ihre Beziehung zum Schlaf, 
sind nicht durchsichtig, und die rätselhafte Auswahl 
von Personen, die sich für sie eignen, während an- 
dere sie gänzlich ablehnen, weist auf ein noch un- 
bekanntes Moment hin, welches in ihr verwirklicht 
wird, und das vielleicht erst die Reinheit der Libido- 
einstellungen in ihr ermöglicht. Beachtenswert ist 
auch, daß häufig das moralische Gewissen der hyp- 
notisierten Person sich selbst bei sonst voller sug- 
gestiver Gefügigkeit resistent zeigen kann. Aber das 
mag daher kommen, daß bei der Hypnose, wie sie 
zumeist geübt wird, ein Wissen erhalten geblieben 
sein kann, es handle sich nur um ein Spiel, eine un- 
wahre Reproduktion einer anderen, weit lebens- 
wichtigeren Situation. 

Durch die bisherigen Erörterungen sind wir 
aber voll darauf vorbereitet, die Formel für die 
libidinöse Konstitution einer Masse anzugeben. 
Wenigstens einer solchen Masse, wie wir sie bisher 
betrachtet haben, die also einen Führer hat und nicht 
durch allzu viel „Organisation" sekundär die Eigen- 
schaften eines Individuums erwerben konnte. Eine 
solche primäre MasseisteineAnzahl 
von Individuen, die ein und dasselbe 



88 



MassenpsydboloKle «md Ich-Analyse 



Objekt an dieStelle ihres Ichideals 
gesetzt und sich infolgedessen in 
ihrem Ich miteinander identifiziert 
haben. Dies Verhältnis läßt eine graphische Dar- 
stellung zu: 



(chideal 



Objekt 




äußeres 
Objelct 



IX. 



Der Herdentrieb. 

Wir werden uns nur kurze Zeit der Illusion 
freuen, durch diese Formel das Rätsel der Masse 
gelöst zu haben. Alsbald muß uns die Mahnung 
beunruhigen, daß wir ja im wesentlichen die Ver- 
weisung auf das Rätsel der Hypnose angenommen 
haben, an dem so vieles noch unerledigt ist. Und 
nun zeigt uns ein anderer Einwand den weiteren 
Weg. 

Wir dürfen uns sagen, die ausgiebigen affek- 
tiven Bindungen, die wir in der Masse erkennen, 
reichen voll aus, um einen ihrer Charaktere zu er- 
klären, den Mangel an Selbständigkeit und Initiative 
beim Einzelnen, die Oleichartigkeit seiner Reaktion 
mit der aller anderen, sein Herabsinken zum Massen- 
individuum sozusagen. Aber die Masse zeigt, wenn 
wir sie als Ganzes ins Auge fassen, mehr; die Züge 
von Schwächung der intellektuellen Leistung, von 



90 Massenpsycbologie und loh-Anaiyse 

Ungehemmtheit der Affektivität, die Unfähigkeit zur 
Mäßigung und zum Aufschub, die Neigtmg zur 
Überschreitung aller Schranken in der Oefühls- 
äußerung und zur vollen Abfuhr derselben in Hand- 
lung, dies und alles Ähnliche, was wir bei L e B o n 
so eindrucksvoll geschildert finden, ergibt ein un- 
verkennbares Bild von Regression der seelischen 
Tätigkeit auf eine frühere Stufe, wie wir sie bei 
Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt 
sind. Eine solche Regression gehört insbesondere 
zum Wesen der gemeinen Massen, während sie, wie 
wir gehört haben, bei hoch organisierten, künst- 
lichen weitgehend hintangehalten werden kann. 

Wir erhalten so den Eindruck eines Zustandes, 
in dem die vereinzelte Gefühlsregung und der per- 
sönliche intellektuelle Akt des Individuums zu 
schwach sind, um sich allein zur Geltung zu brin- 
gen, und durchaus auf Bekräftigung durch gleich- 
artige Wiederholung von Seiten der anderen warten 
müssen. Wir werden daran erinnert, wieviel von 
diesen Phänomenen der Abhängigkeit zur normalen 
Konstitution der menschlichen Gesellschaft gehört, 
wie wenig Originalität und persönUcher Mut sich 
in ihr findet, wie sehr jeder Einzelne durch die Ein- 
stellungen einer Massenseele beherrscht wird, die 



IX. Der Herdentrieb 91 

sich als Rasseneigentümlichkeiten, Standesvorurteile, 
öffentliche Meinung u. dgl. kundgeben. Das Rätsel 
des suggestiven Einflusses vergrößert sich für uns, 
wenn wir zugeben, daß ein solcher nicht allein vom 
Führer, sondern auch von jedem Einzelnen auf jeden 
Einzelnen geübt wird, und wir machen uns den Vor- 
wurf, daß wir die Beziehung zum Führer einseitig 
herausgehoben, den anderen Faktor der gegenseiti- 
gen Suggestion aber ungebührend zurückgedrängt 
haben. 

Auf solche Weise zur Bescheidenheit gewiesen, 
werden wir geneigt sein, auf eine andere Stimme 
zu horchen, welche uns Erklärung auf einfacheren 
Grundlagen verspricht. Ich entnehme eine solche 
dem klugen Buch von W. Trotter über den 
Herdentrieb, an dem ich nur bedauere, daß es sich 
den durch den letzten großen Krieg entfesselten 
Antipathien nicht ganz entzogen hat*. 

T r o 1 1 e r leitet die an der Masse beschriebe- 
nen seelischen Phänomene von einem Herdeninstinkt 
(gregariousness) ab, der dem Menschen wie anderen 
Tierarten angeboren zukommt. Diese Herden- 
haftigkeit ist biologisch eine Analogie und gleich- 



* W. Trotter, Instincts of the Herd in Peace and War. 
London 1916. 



92 Mass€npsychologi€ und Ich-Analyse 

sam eine Fortführung der Vielzelligkeit, im 
Sinne der Libidotheorie eine weitere Äußerung 
der von der Libido ausgehenden Neigung aller 
gleichartigen Lebewesen, sich zu immer umfassen- 
deren Einheiten zu vereinigen*. Der Einzelne fühlt 
sich unvollständig (incomplete), wenn er allein ist. 
Schon die Angst des kleinen Kindes sei eine Äuße- 
rung dieses Herdeninstinkts. Widerspruch gegen die 
Herde ist soviel wie Trennung von ihr und wird 
darum angstvoll vermieden. Die Herde lehnt aber 
alles Neue, Ungewohnte ab. Der Herdeninstinkt sei 
etwas Primäres, nicht weiter Zerlegbares (which 
cannot be split up). 

T r o 1 1 e r gibt als die Reihe der von ihm als 
primär angenommenen Triebe (oder Instinkte): den 
Selbstbehauptungs-, Ernährungs-, Geschlechts- und 
Herdentrieb. Der letztere gerate oft in die Lage, sich 
den anderen gegenüberzustellen. Schuldbewußtsein 
und Pflichtgeführ seien die charakteristischen Besitz- 
tümer eines gregarious animal. Vom Herdeninstinkt 
läßt T r o 1 1 e r auch die verdrängenden Kräfte aus- 
gehen, welche die Psychoanalyse im Ich aufgezeigt 
hat, und folgerichtig gleicherweise die Widerstände, 



* Siehe meinen Aufsatz: Jenseits des Lustprinzips. Beiheft II 
zur Internationalein Zeitschrift für Psychoaiialyse, VI., 1920 



IX. Der Herdentrieb 93 

auf welche der Arzt bei der psychoanalytischen Be- 
handlung stößt. Die Sprache verdanke ihre Bedeu- 
tung ihrer Eignung zur gegenseitigen Verständi- 
gung in der Herde, auf ihr beruhe zum großen Teil 
die Identifizierung der Einzelnen miteinander. 

Wie L e B o n vorwiegend die charakteristischen 
flüchtigen Massenbildungen und M^Dougall 
die stabilen Vergesellschaftungen, so hat T r o 1 1 e r 
die allgemeinsten Verbände, in denen der Mensch, 
dies ^ojov jroXiriKov lebt, in den Mittelpunkt seines 
Interesses gerückt und deren psychologische Be- 
gründung angegeben. Für T r o 1 1 e r bedarf es aber 
keiner Ableitung des Herdentriebes, da er ihn als 
primär und nicht weiter auflösbar bezeichnet. Seine 
Bemerkung, Boris Sidis leite den Herdentrieb 
von derSuggestibilität ab, ist zum Glück für ihn über- 
flüssig; es ist eine Erklärung nach bekanntem, un- 
befriedigendem .Muster, und die Umkehrung dieses 
Satzes, also daß die Suggestibilität ein Abkömmling 
des Herdeninstinkts sei, erschiene mir bei weitem 
einleuchtender. 

Aber gegen Trotters Darstellung läßt sich 
mit noch besserem Recht als gegen die anderen ein- 
wenden, daß sie auf die Rolle des Führers in der 
Masse zu wenig Rücksicht nimmt, während wir doch 



94 MaäenpsvcbolOKie und Idi-Analyse 

eher zum gegenteiligen Urteil neigen, daß das Wesen 
der Masse bei Vernachlässigung des Führers nicht 
zu begreifen sei. Der Herdeninstinkt läßt überhaupt 
für den Führer keinen Raum, er kommt nur so zu- 
fäUig zur Herde hinzu, und im Zusammenhange 
damit steht, daß von diesem Trieb aus auch kein 
Weg zu einem Gottesbedürfnis führt; es fehlt der 
Hirt zur Herde. Außerdem aber kann man Trot- 
ters Darstellung psychologisch untergraben, d. h. 
man kann es zum mindesten wahrscheinüch machen^ 
daß der Herdentrieb nicht unzerlegbar, nicht in dem 
Sinne primär ist wie der Selbsterhaltungstrieb und 
der Geschlechtstrieb. 

Es ist natürlich nicht leicht, die Ontogenese des 
Herdentriebes zu verfolgen. Die Angst des kleinen 
Kindes, wenn es allein gelassen wird, die Trotter 
bereits als Äußerung des Triebes in Anspruch neh- 
men will, legt doch eine andere Deutung näher. Sie 
gilt der Mutter, später anderen vertrauten Personen 
und ist der Ausdruck einer tmerfüllten Sehnsucht, 
mit der das Kind noch nichts anderes anzufangen 
■ in Angst zu verwandeln*. Die Angst 
1 kleinen Kindes wird auch nicht durch 

)rlesuiif:en zur Einführung in die Psychoanalyse, über 



IX. Der Herdentrieb 95 

den Anblick eines beliebigen anderen „aus der 
Herde" beschwichtigt, sondern im Gegenteil durch 
das Hinzukommen eines solchen „Fremden" erst 
hervorgerufen. Dann merkt man beim Kinde lange 
nichts von einem Herdeninstinkt oder Massengef iihl. 
Ein solches bildet sich zuerst in der mehrzähligen 
Kinderstube aus dem Verhältnis der Kinder zu den 
Eltern, und zwar als Reaktion auf den anfänglichen 
Neid, mit dem das ältere Kind das jüngere aufnimmt. 
Das ältere Kind möchte gewiß das nachkommende 
eifersüchtig verdrängen, von den Eltern fernhalten und 
es aller Anrechte berauben, aber angesichts der Tat- 
sache, daß auch dieses Kind — wie alle späteren — 
in gleicherweise von den Eltern geliebt wird, und 
infolge der Unmöglichkeit, seine feindselige Einstel- 
lung ohne eigenen Schaden festzuhalten, wird es zur 
Identifizierung mit den anderen Kindern gezwungen, 
und es bildet sich in der Kinderschar ein Massen- 
oder Gemeinschaftsgefühl, welches dann in der 
Schule seine weitere Entwicklung erfährt. Die erste 
Forderung dieser Reaktionsbildung ist die nach 
Gerechtigkeit, gleicher Behandlung für alle. Es ist 
bekannt, wie laut und unbestechlich sich dieser An- 
spruch in der Schule äußert. Wenn man schon selbst 
nicht der Bevorzugte sein kann, so soll doch wenig- 



96 MassenpsycboloKie und loh-Analyse 

stens keiner von allen bevorzugt werden. Man 
könnte diese Umwandlung und Ersetzung der Eifer- 
sucht durch ein Massengefühl in Kinderstube und 
Schulzimmer für unwahrscheinlich halten, wenn man 
nicht den gleichen Vorgang später unter anderen 
Verhältnissen neuerlich beobachten würde. Man 
denke an die Schar von schwärmerisch verliebten 
Frauen und Mädchen, die den Sänger oder Pianisten 
nach seiner Produktion umdrängen. Gewiß läge es 
jeder von ihnen nahe, auf die andere eifersüchtig zu 
sein, allein angesichts ihrer Anzahl und der damit 
verbundenen Unmöglichkeit, das Ziel ihrer Verliebt- 
heit zu erreichen, verzichten sie darauf, und anstatt 
sich gegenseitig die Haare auszuraufen, handeln sie 
wie eine einheitliche Masse, huldigen dem Gefeierten 
in gemeinsamen Aktionen und wären etwa froh, sich 
in seinen Lockenschmuck zu teilen. Sie haben sich, 
ursprünglich Rivalinnen, durch die gleiche Liebe zu 
dem nämlichen Objekt miteinander identifizieren 
können. Wenn eine Triebsituation, wie ja gewöhn- 
lich, verschiedener Ausgänge fähig ist, so werden 
wir uns nicht verwundern, daß jener Ausgang zu- 
stande kommt, mit dem die Möglichkeit einer ge- 
wissen Befriedigung verbunden ist, während ein 
anderer, selbst ein näher liegender, unterbleibt. 



IX. Der Herdentrieb 97 

weil die realen Verhältnisse ihm die Erreichung 
dieses Zieles versagen. 

Was man dann später in der Gesellschaft als 
Oemeingeist, esprit de.corps usw. wirksam findet, 
verleugnet nicht seine Abkunft vom ursprünglichen 
Neid. Keiner soll sich hervortun wollen, jeder das 
gleiche sein und haben. Soziale Gerechtigkeit will 
bedeuten, daß man sich selbst vieles versagt, damit 
auch die anderen darauf verzichten müssen, oder was 
dasselbe ist, es nicht fordern können. Diese Gleich- 
heitsforderung ist die Wurzel des sozialen Gewis- 
sens und des Pflichtgefühls. In unerwarteter Weise 
enthüllt sie sich in der Infektionsangst der Syphi- 
litiker, die wir durch die Psychoanalyse verstehen 
gelernt haben. Die Angst dieser Armen entspricht 
ihrem heftigen Sträuben gegen den unbewußten 
Wunsch, ihre Infektion auf die anderen auszubreiten, 
denn warum sollten sie allein infiziert und von so 
vielem ausgeschlossen sein und die anderen nicht? 
Auch die schöne Anekdote vom Urteil Salomonis 
hat denselben Kern. Wenn der einen Frau das Kind 
gestorben ist, soll auch die andere kein lebendes 
haben. An diesem Wunsch wird die Verlustträgerin 
erkannt. 



98 Massenpsycfaoloeie und Ich-Anaiyse 

Das soziale Gefühl ruht also auf der Umwen- 
dung eines erst feindseligen Gefühls in eine positiv 
betonte Bindung von der Natur einer Identifizierung. 
Soweit wir den Hergang bis jetzt durchschauen kön- 
nen, scheint sich diese Umwendung unter dem Ein- 
fluß einer gemeinsamen zärtlichen Bindung an eine 
außer der Masse stehende Person zu vollziehen. 
Unsere Analyse der Identifizierung erscheint uns 
selbst nicht als erschöpfend, aber unserer gegen- 
wärtigen Absicht genügt es, wenn wir auf den 
einen Zug, daß die konsequente Durchführung der 
Gleichstellung gefordert wird, zurückkommen. Wir 
haben bereits bei der Erörterung der beiden künst- 
lichen Massen, Kirche und Armee, gehört, ihre Vor- 
aussetzung sei, daß alle von einem, dem Führer, in 
gleicher Weise geliebt werden. Nun vergessen wir 
aber nicht, daß die Gleichheitsforderung der Masse 
nur für die Emzelnen derselben, nicht für den Führer 
gilt. Alle Einzelnen sollten einander gleich sein, aber 
alle wollen sie von einem beherrscht werden. Viele 
:r-_._:-i._ jjjg gjj,|j nüteinander identifizieren können, 
einziger, ihnen allen Überlegener, das ist 
tion, die wir in der lebensfähigen Masse 
:ht finden. Getrauen wir uns also, die Aus- 
1 1 e r*s, der Mensch sei ein Herden- 



IX. Der Herdentrieb 99 

tier, dahin zu korrigieren, er sei vielmehr ein 
Hordentier, ein Einzelwesen einer von einem 
Oberhaupt angeführten Horde. 



X. 



Die Masse nnd die Urhorde. 

Im Jahre 1912 habe ich die Vermutung von 
Ch. Darwin aufgenommen, daß die Urform der 
menschlichen Gesellschaft die von einem starken 
Männchen unumschränkt beherrschte Horde war. 
Ich habe darzulegen versucht, daß die Schicksale 
dieser Horde unzerstörbare Spuren in der mensch- 
lichen Erbgeschichte hinterlassen haben, speziell, daß 
die Entwicklung des Totemismus, der die Anfänge 
von Religion, Sittlichkeit und sozialer Gliederung in 
sich faßt, mit der gewaltsamen Tötung des Ober- 
hauptes und der Umwandlung der Vaterhorde in 
eine Brüdergemeinde zusammenhängt*. Es ist dies 
zwar nur eine Hypothese wie so viele andere, mit 
denen die Prähistoriker das Dunkel der Urzeit auf- 
zuhellen versuchen — eine „just so story" nannte sie 

♦ Totem und Tabu, 2. Auflage 1920. 



X. Die Masse und die Urhordie 101 

witzig ein nicht unliebenswürdiger englischer Kri- 
tiker (K r o e g e r) — aber ich meine, es ist ehren- 
voll für eine solche Hypothese, wenn sie sich ge- 
eignet zeigt, Zusammenhang und Verständnis auf 
immer neuen Gebieten zu schaffen. 

Die menschlichen Massen zeigen uns wiederum 
das vertraute Bild des überstarken Einzelnen in- 
mitten einer Schar von gleichen Genossen, das auch 
in unserer Vorstellung von der Urhorde enthalten 
ist. Die Psychologie dieser Masse, wie wir sie aus 
den oft erwähnten Beschreibungen kennen, — der 
Schwund der bewußten Einzelpersönlichkeit, die 
Orientierung von Gedanken und Gefühlen nach glei- 
chen Richtungen, die Vorherrschaft der Affektivität 
und des unbewußten Seelischen, die Tendenz zur 
unverzügüchen Ausführung auftauchender Absich- 
ten, — das alles entspricht einem Zustand von Re- 
gression zu einer primitiven Seelentätigkeit, wie man 
sie gerade der Urhorde zuschreiben möchte. 

Für die Urhorde muß insbesondere gelten, was wir 
vorhin in der allgemeinen Charakteristik der Menschen 
beschrieben haben. Der Wille des Einzelnen war zu 
schwach, er getraute sich nicht der Tat. Es kamen gar 
keine anderen Impulse zustande als kollektive, es gab 
nur einen Qemeinwillen, keinen singulären. Die Vorstel- 
lung wagte es nicht, sich in Willen umzusetzen, wenn 



102 Massenpsychologle und Ich-AnaJyse 

sie sich nicht durch die Wahrnehmung ihrer allgemeinen 
Verbreitung gestärkt fand. Diese Schwäche der Vorstel- 
lung findet ihre Erklärung in der Stärke der allen gemein- 
samen Qefühlsblndung, aber die Oleichartigkeit der 
Lebensumstände und das Fehlen eines privaten Eigen- 
tums kommen hinzu, um die Gleichförmigkeit der seeli- 
schen Akte bei den Einzelnen zu bestimmen. — Auch die 
exkrementeilen Bedürfnisse schließen, wie man an Kin- 
dern und Soldaten merken kann, die Gemeinsamkeit nicht 
aus. Die einzige mächtige Ausnahme macht der sexuelle 
Akt, bei dem der Dritte zumindest überflüssig, im äußer- 
sten Fall zu einem peinlichen Abwarten verurteilt ist. 
Über die Reaktion des Sexualbedürfnisses (der Qenital- 
befriedigung) gegen das Herdenhafte siehe unten. 



Die Masse erscheint uns so als ein Wiederauf- 
leben der Urhorde. So wie der Urmensch in jedem 
Einzelnen virtuell erhalten ist, so kann sich aus einem 
beliebigen Menschenhaufen die Urhorde wieder her- 
stellen; soweit die Massenbildung die Menschen 
habituell beherrscht, erkennen wir den Fortbestand 
der Urhorde in ihr. Wir müssen schheßen, die 
Psychologie der Masse sei die älteste Menschen- 
psychologie; was wir unter Vernachlässigung aller 
este als Individualpsychologie isoliert haben, 
?rst später, allmählich und sozusagen immer 
r partiell aus der alten Massenpsychologie 
;hoben. Wir werden noch den Versuch 



X. Die Masse und die Urhorde 103 

wagen, den Ausgangspunkt dieser Entwicklung 
anzugeben. 

Eine nächste Überlegung zeigt uns, in welchem 
Punkt diese Behauptung einer Berichtigung bedarf. 
Die Individualpsychologie muß vielmehr ebenso alt 
sein wie die Massenpsychologie, denn von Anfang gab 
es zweierlei Psychologien, die der Massenindividuen 
und die des Vaters, Oberhauptes, Führers. Die Ein- 
zelnen der Masse waren so gebunden, wie wir sie 
heute finden, aber der Vater der Urhorde war frei. 
Seine intellektuellen Akte waren auch in der Verein- 
zelung stark und unabhängig, sein Wille bedurfte 
nicht der Bekräftigung durch den anderer. Wir neh- 
men konsequenterweise an, daß sein Ich wenig 
libidinös gebunden war, er liebte niemand außer sich, 
und die anderen nur insoweit sie seinen Bedürf- 
nissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges 
an die Objekte ab. 

Zu Eingang der Menschheitsgeschichte war er 
der Übermensch, den Nietzsche erst von 
der Zukunft erwartete. Noch heute bedürfen die 
Massenindividuen der Vorspiegelung, daß sie in 
gleicher und gerechter Weise vom Führer geliebt 
werden, aber der Führer selbst braudit niemand 
anderen zu lieben, er darf von Herrennatur sein, 



104 Massenpsycholosie und Ich-Analyse 

absolut narzißfisch, aber selbstsicher und selbstän- 
dig. Wir wissen, daß die Liebe den Narzißmus ein- 
dämmt und könnten nachweisen, wie sie durch diese 
Wirkung Kulturfaktor geworden ist. 

Der Urvater der Horde war noch nicht un- 
sterblich, wie er es später durch Vergottung wurde. 
Wenn er starb, mußte er ersetzt werden; an seine 
Stelle trat wahrscheinlich ein jüngster Sohn, der bis 
dahin Massenindividuum gewesen war wie ein 
anderer. Es muß also eine Möglichkeit geben, die 
Psychologie der Masse in Individualpsychologie 
umzuwandeln, es muß eine Bedingimg gefunden 
werden, unter der sich solche Umwandlung leicht 
vollzieht, ähnlich wie es den Bienen möglich ist, 
aus einer Larve im Bedarfsfalle eine Königin anstatt 
einer Arbeiterin zu ziehen. Man kann sich da nur 
dies eine vorstellen: Der Urvater hatte seine Söhne 
an der Befriedigung ihrer direkten sexuellen Stre- 
bungen verhindert; er zwang sie zur Abstinenz und 
infolgedessen zu den Gefühlsbindungen an ihn und 
aneinander, die aus den Strebungen mit gehemmtem 
Sexualziel hervorgehen konnten. Er zwang sie sozu- 
sagen in die Massenpsychologie. Seine sexuelle Eifer- 
sucht und Intoleranz sind in letzter Linie die Ursache 
der Massenpsychologie geworden. 



X. Die Masse und die Urhorde 105 

Es läßt sich etwa auch annehmen, daß die ver- 
triebenen Söhne, vom Vater getrennt, den Fortschritt von 
der Identifizierung miteinander zur homosexuellen Objekt- 
liebe machten und so die Freiheit gewannen, den Vater 
zu töten. 

Für den, der sein Nachfolger wurde, war auch 
die Möglichkeit der sexuellen Befriedigung gegeben 
und damit der Austritt aus den Bedingungen der 
Massenpsychologie eröffnet. Die Fixierung der 
Libido an das Weib, die Möglichkeit der Befriedi- 
gung ohne Aufschub und Aufspeicherung machte 
der Bedeutung zielgehemmter Sexualstrebungen ein 
Ende und ließ den Narzißmus immer zur gleichen 
Höhe ansteigen. Auf diese Beziehung der Liebe zur 
Charakterbildung werden wir in einem Nachtrag 
zurückkommen. 

Heben wir noch als besonders lehrreich hervor^ 
in welcher Beziehung zur Konstitution der Urhorde 
die Veranstaltung steht, mittels deren eine künstliche 
Masse zusammengehalten wird. Bei Heer und Kirche 
haben wir gesehen, es ist die Vorspiegelung, daß der 
Führer alle Einzelnen in gleicher und gerechter 
Weise liebt. Dies ist aber geradezu die idealistische 
Umarbeitung der Verhältnisse der Urhorde, in der 
sich alle Söhne in gleicher Weise vom Urvater ver- 
folgt wußten und ihn in gleicher Weise fürchteten. 



106 Maseenpsychologie und Idi-Analyse 

Schon die nächste Form der menschlichen Sozietät, 
der totemistische Clan, hat diese Umformung, auf 
die alle sozialen Pflichten aufgebaut sind, zur Vor- 
aussetzung. Die unverwüstliche Stärke der Familie 
als einer natürlichen Massenbildung beruht darauf, 
daß diese notwendige Voraussetzung der gleichen 
Liebe des Vaters für sie wirklich zutreffen kann. 

Aber wir erwarten noch mehr von der Zurück- 
führung der Masse auf die Urhorde. Sie soll uns 
auch das noch Unverstandene, Geheimnisvolle an 
der Massenbildung näher bringen, da^ sich hinter 
den Rätselworten Hypnose und Suggestion ver- 
birgt. Und ich meine, sie kann es auch leisten. Er- 
innern wir uns daran, daß die Hypnose etwas direkt 
Unheimliches an sich hat; der Charakter des Un- 
heimlichen deutet aber auf etwas der Verdrängung 
verfallenes Altes und Wohlvertrautes hin *. Denken 
wir daran, wie die Hypnose eingeleitet wird. Der 
Hypnotiseur behauptet im Besitz einer geheimnis- 
vollen Macht zu sein, die dem Subjekt den eigenen 
Willen raubt^ oder, was dasselbe ist, das Subjekt 
glaubt es von ihm. Diese geheimnisvolle Macht — 
populär noch oft als tierischer Magnetismus bezeich- 
net — muß dieselbe sein, welche den Primitiven als 

• Das Unheimliche. Imago, V, 1919. 



X. Die Masse und di« Urhorde 107 

Quelle des Tabu gilt, dieselbe, die von Königen und 
Häuptlingen ausgeht und die es gefährlich macht, 
sich ihnen zu nähern (Mana). Im Besitz dieser Macht 
will nun der Hypnotiseur sein und wie bringt er sie 
zur Erscheinung? Indem er die Person auffordert, 
ihm in die Augen zu sehen; er hypnotisiert in typi- 
scher Weise durch seinen Blick. Gerade der Anblick 
des Häuptlings ist aber für den Primitiven gefährlich 
und unerträglich, wie später der der Gottheit für 
den Sterblichen. Noch Moses muß den Mittelsmann 
zwischen seinem Volke und Jehova machen, da das 
Volk den Anblick Gottes nicht ertrüge, und wenn er 
von der Gegenwart Gottes zurückkehrt, strahlt sein 
Antlitz, ein Teil des „Mana" hat sich wie beim 
Mittler * der Primitiven auf ihn übertragen. 

Man kann die Hypnose allerdings auch auf 
anderen Wegen hervorrufen, was irreführend ist 
und zu unzulänglichen physiologischen Theorien 
Anlaß gegeben hat, z. B. durch das Fixieren eines 
glänzenden Gegenstandes oder durch das Horchen 
auf ein monotones Geräusch. In Wirklichkeit dienen 
diese Verfahren nur der Ablenkung und Fesselung 
der bewußten Aufmerksamkeit. Die Situation ist die 
nämliche, als ob der Hypnotiseur der Person gesagt 

♦ S. Totem und Tabu, und die dort zitierten OueUen. 



108 Massenpsycfaologie und iQh-Anailyse 

hätte: Nun beschäftigen Sie sich ausschließlich mit 
meiner Person, die übrige Welt ist ganz uninter- 
essant. Gewiß wäre es technisch unzweckmäßig, 
wenn der Hypnotiseur eine solche Rede hielte; das 
Subjekt würde durch sie aus seiner unbewußten Ein- 
stellung gerissen und zum bewußten Widerspruch 
aufgereizt werden. Aber während der Hypnotiseur 
es vermeidet, das bewußte Denken des Subjekts auf 
seine Absichten zu richten, und die Versuchsperson 
sich in eine Tätigkeit versenkt, bei der ihr die Welt 
uninteressant vorkommen muß, geschieht es, daß 
sie unbewußt wirklich ihre ganze Aufmerksamkeit 
auf den Hypnotiseur konzentriert, sich in die Ein- 
stellung des Rapports, der Übertragung, zum Hyp- 
notiseur begibt. Die indirekten Methoden des Hyp- 
notisierens haben also, ähnUch wie manche Techni- 
ken des Witzes, den Erfolg, gewisse Verteilungen 
der seelischen Energie, welche den Ablauf des unbe- 
wußten Vorgangs stören würden, hintanzuhalten, 
und sie führen schließlich zum gleichen Ziel wie die 
direkten Beeinflussungen durch Anstarren oder 
Streichen. 

Die Situation, daß die Person unbewußt auf den 
Hypnotiseur eingestellt ist, während sie sich bewußt mit 
gleichbleibenden, uninteressanten Wahrnehmungen be- 



X. Die Masse utul die Urborde 109 

schäftigt findet ein Gegenstück in den Vorkommnissen 
der psyclioanalytischen Behandlung, das hier erwähnt zu 
werden verdient. In jeder Analyse ereignet es sich min- 
destens einmal, daß der Patient hartnäckig behauptet, 
jetzt fiele ihm aber ganz bestimmt nichts ein. Seine freien 
Assoziationen stocken und die gewöhnlichen Antriebe, 
sie in Gang zu bringen, schlagen fehl. Durch Drängen er- 
reicht man endlich das Eingeständnis, der Patient denke 
an die Aussicht aus dem Fenster des Behandlungsraumes, 
an die Tapete der Wand, die er vor sich sieht, oder an 
die Gaslampe, die von der Zimmerdecke herabhängt. Man 
weiß dann sofort, daß er sich in die Übertragung begeben 
hat, von noch unbewußten Gedanken in Anspruch genom- 
men wird, die sich auf den Arzt beziehen, und sieht die 
Stockung in den Einfällen des Patienten schwinden, so- 
bald man ihm diese Aufklärung gegeben hat. 

Ferenczi hat richtig herausgefunden, daß 
sich der Hypnotiseur mit dem Schlafgebot, welches 
oft zur Einleitung der Hypnose gegeben wird, an 
die Stelle der Eltern setzt. Er meinte zwei Arten der 
Hypnose unterscheiden zu sollen, eine schmeichle- 
risch begütigende, die er dem Muttervorbild, und 
eine drohende, die er dem Vater zuschrieb *. Nun 
bedeutet das Gebot zu schlafen in der Hypnose auch 
nichts anderes als die Aufforderung, alles Interesse 
von der Welt abzuziehen und auf die Person des 
Hypnotiseurs zu konzentrieren; es wird auch vom 

* Ferenczi, Inirolektion und Übertrasimg. Jahrbudh der 
Psychoanalyse, I, 1909. 

8 



110 Massenpsycbologie ond loh-Analyse 

Subjekt so verstanden, denn in dieser Abziehting des 
Interesses von der Außenwelt liegt die psycholo- 
gische Charakteristik des Schlafes und auf ihr beruht 
die Verwandtschaft des Schlafes mit dem hypnoti- 
schen Zustand. 

Durch seine Maßnahmen weckt also der Hyp- 
notiseur beim Subjekt ein Stück von dessen archai- 
scher Erbschaft, die auch den Eltern entgegenkam 
und im Verhältnis zum Vater eine individuelle Wie- 
derbelebung erfuhr, die Vorstellung von einer über- 
mächtigen und gefährlichen Persönlichkeit, gegen 
die man sich nur passiv-masochistisch einstellen 
konnte, an die man seinen Willen verlieren mußte, 
und mit der allein zu sein, „ihr unter die Augen zu 
treten" ein bedenkliches Wagnis schien. Nur so 
etwa können wir uns das Verhältnis eines Einzelnen 
der Urhorde zum Urvater vorstellen. Wie wir aus 
anderen Reaktionen wissen, hat der Einzelne ein 
variables Maß von persönlicher Eignung zur Wie- 
derbelebung solch alter Situationen bewahrt. Ein 
Wissen, daß die Hypnose doch nur ein Spiel, eine 
lügenhafte Erneuerung jener alten Eindrücke ist, 
kann aber erhalten bleiben und für den Widerstand 
gegen allzu ernsthafte Konsequenzen der hypnoti- 
schen Willensaufhebung sorgen. 



X. Die Masse und die Urhordie 111 

Der unheimliche, zwanghafte Charakter der 
Massenbildung, der sich in ihren Suggestionser- 
scheinungen zeigt, kann also wohl mit Recht auf 
ihre Abkunft von der Urhorde zurückgeführt wer- 
den. Der Führer der Masse ist noch immer der ge- 
fürchtete Urvater, die Masse will immer noch von 
unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist 
im höchsten Grade autoritätssüchtig, hat nach Le 
Bon's Ausdruck den Durst nach Unterwerfung. 
Der Urvater ist das Massenideal, das an Stelle des 
Ichideals das Ich beherrscht. Die Hypnose hat ein 
gutes Anrecht auf die Bezeichnung: eine Masse zu 
zweit; für die Suggestion erübrigt die Definition 
einer Überzeugung, die nicht auf Wahrnehmung 
und Denkarbeit, sondern auf erotische Bindung ge- 
gründet ist. 

Es erscheint mir der Hervorhebung wert, daß wir 
durch die Erörterungen . dieses Abschnittes veranlaßt 
werden, von der B e r n h e i m'schen Auffassung der 
Hypnose auf die naive ältere derselben zurückzugreifen. 
Nach Bernheim sind alle hypnotischen Phänomene 
von dem weiter nicht aufzuklärenden Moment der Sugge- 
stion abzuleiten. Wir schheßen, daß die Suggestion eine 
Teilerscheinung des hypnotischen Zustandes ist, der in 
einer unbewußt erhaltenen Disposition aus der Urge- 
schichte der menschlichen Familie seine gute Begrün- 
dung hat. 

8* 



XL 
Eine Stufe im Ich. 

Wenn man, eingedenk der einander ergänzen- 
den Beschreibungen der Autoren über Massen- 
psychologie, das Leben der heutigen Einzehnenschen 
überblickt, mag man vor den Komplikationen, die 
sich hier zeigen, den Mut zu einer zusammenfassen- 
den Darstellung verlieren. Jeder Einzelne ist ein 
Bestandteil von vielen Massen, durch Identifizierung 
vielseitig gebunden, und hat sein Ichideal nach den 
verschiedensten Vorbildern aufgebaut. Jeder Ein- 
zelne hat so Anteil an vielen Massenseelen, an der 
seiner Rasse, des Standes, der Glaubensgemein- 
schaft, der Staatlichkeit usw. und kann sich darüber 
hinaus zu einem Stückchen Selbständigkeit und 
Originalität erheben. Diese ständigen und dauer- 
haften Massenbildungen fallen in ihren gleichmäßig 
anhaltenden Wirkungen der Beobachtung weniger 
auf als die rasch gebildeten, vergänglichen Massen, 



XI. Eine Stufe im Ich • 113 

nach denen L e Bon die glänzende psychologische 
Charakteristik der Massenseele entworfen hat, und 
in diesen lärmenden, ephemeren, den anderen gleich- 
sam superponierten Massen begibt sich eben das ' 
Wunder, daß dasjenige, was wir eben als die indi- 
viduelle Ausbildung anerkannt haben, spurlos, wenn 
auch nur zeitweilig untergeht. 

Wir haben dies Wunder «o verstanden, daß der 
Einzelne sein Ichideal aufgibt und es gegen das im 
Führer verkörperte Massenideal vertauscht. Das 
Wunder, dürfen wir berichtigend hinzufügen, ist 
nicht in 'aUen FäUen gleich groß. Die Sonderung 
von Ich und Ichideal ist bei vielen Individuen nicht 
weit vorgeschritten, die beiden fallen noch leicht zu- 
sammen, das Ich hat sich oft die frühere narzißtische 
Selbstgefälligkeit bewahrt. Die Wahl des Führers , 
wird durch dies Verhältnis sehr erleichtert. Er 
braucht oft nur die typischen Eigenschaften dieser 
Individuen in besonders scharfer und reiner Aus- 
prägung zu besitzen und den Eindruck größerer - 
Kraft und libidinöser Freiheit zu machen, so kommt 
ihm das Bedürfnis nach einem starken Oberhaupt 
entgegen und bekleidet ihn mit der Übermacht, auf 
die er sonst vielleicht keinen Anspruch hätte. Die 
anderen, deren Ichideal sich in seiner Person sonst 



114 Massenpsychologie und IdinAnalyse 

nicht ohne Korrektur verkörpert hätte, werden dann 
„suggestiv", d. h. durch Identifizierung mitgerissen. 
Wir erkennen, was wir zur Aufklärung der 
libidinösen Struktur einer Masse beitragen konnten, 
führt sich auf die Unterscheidung des Ichs vom jch- 
ideal und auf die dadurch ermöglichte doppelte Art 
der Bindung — Identifizierung und Einsetzung des 
Objekts an die Stelle des Ichideals — zurück. Die 
Annahme einer solchen Stufe im Ich als erster Schritt 
einer Ichanalyse muß ihre Rechtfertigung allmählich 

auf den verschiedensten Gebieten der Psychologie 

# 

erweisen. In meiner Schrift „Zur Einführung des 
Narzißmus" * habe ich zusammengetragen, was 
sich zunächst von pathologischem Material zur 
Stütze dieser Sonderung verwerten ließ. Aber man 
darf erwarten, daß sich ihre Bedeutung bei weiterer 
Vertiefung in die Psychologie der Psychosen als eine 
viel größere enthüllen wird. Denken wir daran, daß 
das Ich nun in die Beziehung eines Objekts zu dem 
au? ihm entwickelten Ichideal tritt, und daß mög- 
Ucherweise alle Wechselwirkungen, die wir zwischen 
äußerem Objekt und Gesamt-Ich in der Neurosen- 
lehre kennen gelernt haben, auf diesem neuen Schau- 

♦ Jahrbuch der Psychoanalyse, VI, 1914. — Sammlung kJelnex 
Schriften zur Neurosenl-ehre, 4. Folge. 



XI. Eiw Stufe im Idi 115 

platz innerhalb des Ichs zur Wiederholung kommen. 
Ich will hier nur einer der von diesem Stand- 
punkt aus möglichen Folgerungen nachgehen und 
damit die Erörterung eines Problems fortsetzen, 
das ich an anderer Stelle ungelöst verlassen mußte ^ . 
Jede der seelischen Differenzierungen, die uns be- 
kannt geworden sind, stellt eine neue Erschwerung 
der seelischen Funktion dar, steigert deren Labilität 
und kann der Ausgangspunkt eines Versagens der 
Funktion, einer Erkrankung werden. So haben wir 
mit dem Geborenwerden den Schritt vom absolut 
selbstgenügsamen Narzißmus zur Wahrnehmung 
einer veränderlichen Außenwelt und zum Beginn 
der Objektfindung gemacht, und damit ist verknüpft, 
daß wir den neuen Zustand nicht dauernd ertragen, 
daß wir ihn periodisch rückgängig machen und im 
Schlaf zum früheren Zustand der Reizlosigkeit und 
Objektvermeidung zurückkehren. Wir folgen dabei 
allerdings einem Wink der Außenwelt, die uns durch 
den periodischen Wechsel von Tag und Nacht zeit- 
weilig den größten Anteil der auf uns wirkenden 
Reize entzieht. Keiner ähnlichen Einschränkung ist 
das zweite, für die Pathologie bedeutsamere Beispiel 

* Trauer und Melancholie. Internationale Zeitschrift für Psycho- 
analyse, IV, 1916/18. — Sammlung kleiner Schriften zur N-eurosen- 
tehre, 4. Folge. 



116 MassenpsyclioloEie und Icb-Aoatyse 

unterworfen. Im Laufe unserer Entwicklung haben 
wir eine Sonderung unseres seelischen Bestandes 
in ein kohärentes Ich und in ein außerhalb dessen 
gelassenes, unbewußtes Verdrängtes vorgenommen 
und wir wissen, daß die Stabilität dieser Neuerwer- 
bung beständigen Erschütterungen ausgesetzt ist. 
Im Traum und in der Neurose pocht dieses Ausge- 
schlossene um Einlaß an den von Widerständen be- 
wachten Pforten, und in wacher Gesundheit bedie- 
nen wir uns besonderer Kunstgriffe, um das Ver- 
drängte mit Umgehung der Widerstände und unter 
Lustgewinn zeitweilig In unser Ich aufzunehmen. 
Witz und Humor, zum Teil auch das Komische über- 
haupt, dürfen in diesem Licht betrachtet werden. 
Jedem Kenner der Neurosenpsychologie werden 
ähnliche Beispiele von geringerer Tragweite ein- 
fallen, aber ich eile zu der beabsichtigten An^ 
Wendung. 

Es wäre gut denkbar, daß auch die Scheidung 
des Ichideals vom Ich nicht dauernd vertragen wird 
und sich zeitweilig zurückbilden muß. Bei allen Ver- 
td Einschränkungen, die dem Ich auferlegt 
jt der periodische Durchbruch der Verbote 
i ja die Institution der Feste zeigt, die ur- 
1 nichts anderes sind als vom Gesetz gebe- 



XI. Eine Stufe im Ich 117 

tene Exzesse und dieser Befreiung auch ihren heite- 
ren Charakter verdanken *. Die Saturnalien der 
Römer und unser heutiger Karneval treffen in die- 
sem wesentlichen Zug mit den Festen der Primitiven 
zusammen, die in Ausschweifungen jeder Art mit 
Übertretung der sonst heiligsten Gebote auszugehen 
pflegen. Das Ichideal umfaßt aber die Summe aller 
Einschränkungen, denen das Ich sich fügen soll, und 
darum müßte die Einziehung des Ideals ein groß- 
artiges Fest für das Ich sein, das dann wieder einmal 
mit sich selbst zufrieden sein dürfte. 

Es kommt immer zu einer Empfindung von Triumph, 
wenn etwas im Ich mit dem Ichideal zusammenfällt. Als 
Ausdruck der Spannung zwischen Ich und Ideal kann 
auch das Schuldgefühl (imd Minderwertigkeitsgefühl) 
verstanden werden. 

T r 1 1 e r läßt die Verdrängung vom Herdentrieb 
ausgehen. Es ist eher eine Übersetzung in eine andere 
Ausdrucksweise als ein Widerspruch, wenn ich in der 
„Einführung des Narzißmus'' gesagt habe : die Idealbildung 
wäre von selten des Ichs die Bedingung der Verdrängung. 

Es gibt bekanntüch Menschen, bei denen das 
Allgemeingefühl der Stimmung in periodischer 
Weise schwankt, von einer übermäßigen Gedrückt- 
heit durch einen gewissen Mittelzustand zu einem 

* Totem «nd Tabu. 



Massenpsychalogie und Idi-Aoalyse 

erhöhten Wohlbefinden, und zwar treten diese 
Schwankungen in sehr verschieden großen Amplitu- 
den auf, vom eben Merklichen bis zu jenen Extremen, 
die als Melancholie und Manie höchst qualvoll oder 
störend in das Leben der Betroffenen eingreifen. In 
typischen Fällen dieser zyklischen Verstimmung 
scheinen äußere Veranlassungen keine entscheidende 
Rolle zu spielen; von inneren Motiven findet man 
bei diesen Kranken nicht mehr oder nichts anderes 
als bei allen anderen. Man hat sich deshalb gewöhnt, 
diese Fälle als nicht psychogene zu beurteilen. Von 
anderen, ganz ähnUchen Fällen zyklischer Verstim- 
mung, die sich aber leicht auf seelische Traiunen 
zurückführen, soll später die Rede sein. 

Die Begründung dieser spontanen Stimmungs- 
schwankungen ist also unbekannt; in den Mecha- 
nismus der Ablösung einer Melancholie durch eine 
Manie fehlt uns die Einsicht * Somit wären dies die 
Kranken, für welche unsere Vermutung Geltung 
haben könnte, daß ihr Ichideal zeitweilig in's Ich auf- 
gelöst wird, nachdem es vorher besonders strenge 
regiert hat. 

Halten wir zur Vermeidung von Unklarheiten 
Jest: Auf dem Boden unserer Ichanalyse ist es nicht 
Zweifelhaft, daß beim Manischen Ich und Ichideal 



' XI. Eine Stufe im loh lrl9 

zusammengeflossen sind, so daß die Person sich 
in einer durch keine Selbstkritik gestörten Stimmung 
von Triumph und Selbstbeglücktheit des Wegfalls 
von Hemmungen, Rücksichten und Selbstvorwürfen 
erfreuen kann. Es ist minder evident, aber doch recht 
wahrscheinlich, daß das Elend des Melancholikers 
der Ausdruck eines scharfen Zwiespalts zwischen 
beiden Instanzen des Ichs ist, in dem das übermäßig 
empfindliche Ideal seine Verurteilung des Ichs im 
Kleinheitswahn und in der Selbsterniedrigung scho- 
nungslos zum Vorschein bringt. In Frage steht nur, 
ob man die Ursache dieser veränderten Beziehungen 
zwischen Ich und Ichideal in den oben postulierten 
periodischen Auflehnungen gegen die neue Institu- 
tion suchen, oder andere Verhältnisse dafür verant- 
wortlich machen soll. 

Der Umschlag in Manie ist kein notwendiger 
Zug im Krankheitsbild der melancholischen Depres- 
sion. Es gibt einfache, einmalige und auch periodisch 
wiederholte Melancholien, welche niemals dieses 
Schicksal haben. Anderseits gibt es MelanchoÜen, 
bei denen die Veranlassung offenbar eine ätiolo- 
gische Rolle spielt. Es sind die nach dem Verlust 
eines geliebten Objekts, sei es durch den Tod des- 
selben oder infolge von Umständen, die zum Rück- 



120 I Massenpsydhologie uitid Ich^Analyse 

zug der Libido vom Objekt genötigt haben. Eine 
solche psychogene Melancholie kann ebensowohl in 
Manie ausgehen und dieser Zyklus mehrmals wie- 
derholt werden wie bei einer anscheinend spontanen. 
Die Verhältnisse sind also ziemlich undurchsichtig, 
zumal da bisher nur wenige Formen und Fälle von 
Melancholie der psychoanalytischen Untersuchung 
unterzogen worden sind * . Wir verstehen bis jetzt 
nur jene Fälle, in denen das Objekt aufgegeben 
wurde, weil es sich der Liebe unwürdig gezeigt 
hatte. Es wird dann durch Identifizierung im Ich 
wieder aufgerichtet und vom Ichideal streng gerich- 
tet. Die Vorwürfe und Aggressionen gegen das Ob- 
jekt kommen als melancholische Selbstvorwürfe zum 
Vorschein. 

Genauer gesagt: sie verbergen sich hinter den Vor- 
würfen gegen das eigene Ich, verleihen ihnen die Festig- 
keit, Zähigkeit und Unabweisbarkeit, durch weiche sich 
die Selbstvorwürfe der Melancholiker auszeichnen. 

Auch an eine solche Melancholie kann sich der 
Umschlag in Manie anschließen, so daß diese Mög- 
lichkeit einen von den übrigen Charakteren des 
Krankheitsbildes unabhängigen Zug darstellt. 

• Vgl. Abraham, Ansätze zur psychoanalytischen Erfor- 
schung iwid Behandlung des manisch-depressiven Irreseins etc., 1912, 
In »iKHnische Beiträge zur Psychoanalyse", 1921. 



XI. Eine Stufe im loh 121 

Ich sehe indes keine Schwierigkeit, das Moment 

« 

der periodischen Auflehnung des Ichs gegen das 
Ichideal für beide Arten der Melancholien, die 
psychogenen wie die spontanen, in Betracht kommen 
zu lassen. Bei den spontanen kann man annehmen, 
daß das Ichideal zur Entfaltung einer besonderen 
Strenge neigt, die dann automatisch seine zeitweilige 
Aufhebung zur Folge hat. Bei den psychogenen 
würde das Ich zur Auflehnung gereizt durch die 
Mißhandlung von selten seines Ideals, die es im FaU 
der Identifizierung mit einem verworfenen Objekt 
erfährt. 



XII. 
Nachträge. 

Im Laufe der Untersuchung, die jetzt zu einem 
vorläufigen Abschluß gekommen ist, haben sich uns 
verschiedene Nebenwege eröffnet, die wir zuerst 
vermieden haben, auf denen uns aber manche nahe 
Einsicht winkte. Einiges von dem so zurückgestell- 
ten wollen wir nun nachholen. 

A. Die Unterscheidung von Ichidentifizierung 
und Ichidealersetzung durch das Objekt findet eine 
interessante Erläuterung an den zwei großen künst- 
lichen Massen, die wir eingangs studiert haben, dem 
Heer und der christlichen Kirche. 

Es ist evident, daß der Soldat seinen Vorgesetz- 
ten, also eigentlich den Armeeführer, zum Ideal 
nimmt, während er sich mit seinesgleichen identifi- 
ziert und aus dieser Ichgemeinsamkeit die Verpflich- 
tungen der Kameradschaft zur gegenseitigen Hilfe- 
leistung und Güterteilung ableitet. Aber er wird 



XII. Nachträge 123 

lächerlich, wenn er sich mit dem Feldherrn identifi- 
zieren wül. Der Jäger in Wallensteins Lager ver- 
spottet darob den Wachtmeister: 

Wie er räuspert und wie er spuckt, 

Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt! . . . 

Anders in der katholischen Kirche. Jeder Christ 
liebt Christus als sein Ideal und fühlt sich den ande- 
ren Christen durch Identifizierung verbunden. Aber 
die Kirche fordert von ihm mehr. Er soll überdies 
sich mit Christus identifizieren tmd die anderen 
Christen lieben, wie Christus sie geliebt hat. Die 
Kirche fordert also an beiden Stellen die Ergänzung 
der durch die Massenbildung gegebenen Libido- 
position. Die Identifizierung soll dort hinzukommen, 
wo die Objektwahl stattgefunden hat, und die 
Objektliebe dort, wo die Identifizierung besteht. 
Dieses Mehr geht offenbar über die Konstitution der 
Masse hinaus. Man kann ein guter Christ sein und 
doch könnte einem die Idee, sich an Christi Stelle zu 
setzen, wie er alle Menschen liebend zu umfassen, 
ferne liegen. Man braucht sich ja nicht als schwacher 
Mensch die Seelengröße und Liebesstärke des Hei- 
lands zuzutrauen. Aber diese Weiterentwicklung 
der Libidoverteilung in der Masse ist wahrscheinlich 



124 Massenpsydhalosie imd Ich-Analyse 

das Moment, auf welches das Christentum den An- 
spruch gründet, eine höhere Sittlichkeit gewonnen 
zu haben. 

B. Wir sagten, es wäre mögüch, die Stelle in 
der seelischen Entwicklung der Menschheit anzu- 
geben, an der sich auch für den Einzelnen der Fort- 
schritt von der Massen- zur Individualpsychologie 
vollzog. 

Das hier folgende steht unter dem Einflüsse eines 
Gedankenaustausches mit Otto Rank. 

Dazu müssen wir wieder kurz auf den wissen- 
schaftlichen Mythus vom Vater der Urhorde zurück- 
greifen. Er wurde später zum Weltenschöpfer erhöht, 
mit Recht, denn er hatte alle die Söhne erzeugt, 
welche die erste Masse zusammensetzten. Er war 
das Ideal jedes einzelnen von ihnen, gleichzeitig ge- 
fürchtet und verehrt, was für später den Begrifi des 
Tabu ergab. Diese Mehrheit faßte sich einmal zu- 
sammen, tötete und zerstückelte ihn. Keiner der 
Massensieger konnte sich an seine Stelle setzen, oder 
wenn es einer tat, erneuerten sich die Kämpfe, bis 
sie einsahen, daß sie alle auf die Erbschaft des Vaters 
verzichten müßten. Sie bildeten dann die totemistische 
Brüdergemeinschaft, alle mit gleichem Rechte und 



XII. Nachträse 125 

durch die Totemverbote gebunden, die das Anden- 
ken der Mordtat erhalten und sühnen sollten. Aber 
die Unzufriedenheit mit dem Erreichten blieb und 
wurde die Quelle neuer Entwicklungen. Allmählich 
näherten sich die zur Brudermasse Verbundenen 
einer Herstellung des alten Zustandes auf neuem 
Niveau, der Mann wurde wiederum Oberhaupt 
einer Familie und brach die Vorrechte der Frauen- 
herrschaft, die sich in der vaterlosen Zeit festgesetzt 
hatte. Zur Entschädigung mag er damals die Mutter- 
gottheiten anerkannt haben, deren Priester kastriert 
wurden zur Sicherung der Mutter nach dem Beispiel, 
das der Vater der Urhorde gegeben hatte; doch war 
die neue Familie nur ein Schatten der alten, der Väter 
waren viele und jeder durch die Rechte des anderen 
beschränkt. 

Damals mag die sehnsüchtige Entbehrung einen 
Einzelnen bewogen haben, sich von der Masse los- 
zulösen und sich in die Rolle des Vaters zu versetzen. 
Wer dies tat, war der erste epische Dichter, der 
Fortschritt wurde in seiner Phantasie vollzogen. 
Dieser Dichter log die Wirklichkeit um im Sinne 
seiner Sehnsucht. Er erfand den heroischen Mythus. 
Heros war, wer allein den Vater erschlagen hatte, 
der im Mythus noch als totemistisches Ungeheuer 





126 Massenpsydiologie und Idi-Analyse 

erschien. Wie der Vater das erste Ideal des Knaben 
gewesen war, so schuf jetzt der Dichter im Heros, 
der den Vater ersetzen wül, das erste Ichideal. Die 
Anknüpfung an den Heros bot wahrscheinlich der 
jüngste Sohn, der Liebling der Mutter, den sie vor 
der väterlichen Eifersucht beschützt hatte, und der 
in Urhordenzeiten der Nachfolger des Vaters ge- 
worden war. In der lügenhaften Umdichtung der 
Urzeit wurde das Weib, das der Kampfpreis und die 
Verlockung des Mordes gewesen war, wahrschein- 
lich zur Verführerin und Anstifterin der Untat. 

Der Heros will die Tat allein vollbracht haben, 
deren sich gewiß nur die Horde als Ganzes getraut 
hatte. Doch hat nach einer Bemerkung von Rank 
das Märchen deutliche Spuren des verleugneten 
Sachverhalts bewahrt. Denn dort kommt es häufig 
vor, daß der Held, der eine schwierige Aufgabe zu 
lösen hat — meist ein jüngster Sohn, nicht selten 
einer, der sich vor dem Vatersurrogat dumm, d. h. 
ungefährlich gestellt hat — diese Aufgabe doch nur 
mit Hilfe einer Schar von kleinen Tieren (Bienen, 
Ameisen) lösen kann. Dies wären die Brüder der 
Urhorde, wie ja auch in der Traumsymbolik Insek- 
ten, Ungeziefer die Geschwister (verächtlich: als 
kleine Kinder) bedeuten. Jede der Aufgaben in 



XII. Naditräge 127 

Mythus und Märchen ist überdies leicht als Ersatz 
der heroischen Tat zu erkennen. 

Der Mythus ist also der Schritt, mit dem der 
Einzelne aus der Massenpsychologie austritt. Der 
erste Mythus war sicherlich der psychologische, der 
Heroenmythus; der erklärende Naturmythus muß 
weit später aufgekommen sein. Der Dichter, der 
diesen Schritt getan und sich so in der Phantasie 
von der Masse gelöst hatte, weiß nach einer weiteren 
Bemerkung von Rank doch in der Wirklichkeit die 
Rückkehr zu ihr zu finden. Denn er geht hin und er- 
zählt dieser Masse die Taten seines Helden, die er 
erfunden. . Dieser Held ist im Grunde kein anderer 
als er selbst. Er senkt sich somit zur Realität herab 
und hebt seine Hörer zur Phantasie empor. Die 
Hörer aber verstehen den Dichter, sie können sich 
auf Onmd der nämlichen sehnsüchtigen Beziehung 
zum Urvater mit dem Heros identifizieren *. 

Die Lüge des heroischen Mythus gipfelt in der 
Vergottung des Heros. Vielleicht war der vergottete 
Heros früher als der Vatergott, der Vorläufer der 
Wiederkehr des Urvaters als Gottheit. Die Götter- 
reihe liefe dann chronologisch so: Muttergöttin — 

• Vgl Hanns Sachs, Qemeinsaime Tagträuime, Autoreferat 
eines Vortrags au* dem VI. psychoanalytischen Kongreß im Haag, 
1920. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, VI, 1920. 

9* 



128 Massenpsyc^olosle und Ich-Analyse 

Heros — ^Vatergott. Aber erst mit der Erhöhung des 
nie vergessenen Urvaters erhielt die Gottheit die 
Züge, die wir noch heute an ihr kennen. 

In dieser abgekürzten Darstellung ist auf alles Ma- 
terial aus Sage, Mythus, Märchen, Sittengeschichte usw. 
zur Stütze der Konstruktion verzichtet worden. 

C. Wir haben in dieser Abhandlung viel von 
direkten und von zielgehemmten Sexualtrieben ge- 
sprochen und dürfen hoffen, daß diese Unterschei- 
dung nicht auf großen Widerstand stoßen wird. 
Doch wird eine eingehende Erörterung darüber nicht 
unwillkommen sein, selbst wenn sie nur wiederholt, 
was zum großen Teil bereits an früheren Stellen 
gesagt worden ist. 

Das erste, aber auch beste Beispiel zielgehemm- 
ter Sexualtriebe hat uns die Xibidoentwicklung des 
Kindes kennen gelehrt. Alle die Gefühle, welche das 
Kind für seine Eltern und Pflegepersonen empfindet, 
setzen sich ohne Schranke in die Wünsche fort, 
welche dem Sexualstreben des Kindes Ausdruck 
geben. Das Kind verlangt von diesen geliebten Per- 
sonen alle Zärtlichkeiten, die ihm bekannt sind, will 
1, berühren, beschauen, ist neugierig, ihre 
1 zu sehen und bei ihren intimen Exkre- 
chtungen anwesend zu sein, es verspricht, 



XII. Nachträge 129 

die Mutter oder Pflegerin zu heiraten, was immer es 
sich darunter vorstellen mag, setzt sich vor, dem 
Vater ein Kind zu gebären usw. Direkte Beobach- 
tung sowie die nachträgliche analytische Durch- 
leuchtung der Kindheitsreste lassen über das un- 
mittelbare Zusammenfließen zärtlicher und eifer- 
süchtiger Gefühle und sexueller Absichten keinen 
Zweifel und legen uns dar, in wie gründlicher Weise 
das Kind die geliebte Person zum Objekt aller seiner 
noch nicht richtig zentrierten Sexualbestrebungen 
macht. (Vgl. Sexualtheorie.) 

Diese erste Liebesgestaltung des Kindes, die 
typisch dem Ödipuskomplex zugeordnet ist, erliegt 
dann, wie bekannt, vom Beginn der Latenzzeit an 
einem Verdrängungsschub. Was von ihr erübrigt, 
zeigt sich uns als rein zärtliche Gefühlsbindung, die 
denselben Personen gilt, aber nicht mehr als „sexuell" 
bezeichnet werden soll. Die Psychoanalyse, welche 
die Tiefen des Seelenlebens durchleuchtet, hat es 
nicht schwer aufzuweisen, daß auch die sexuellen 
Bindungen der ersten Kinderjahre noch fortbestehen, 
aber verdrängt und unbewußt. Sie gibt uns den Mut 
zu behaupten, daß überall, wo wir ein zärtliches 
Gefühl begegnen, dies der Nachfolger einer voU- 
„sinnlichen" Objektbindung an die betreffende Per- 



130 Massenpsycholosk und Ich-Analyse 

son oder ihr Vorbild (ihre Imago) ist. Sie kann uns 
freilich nicht ohne besondere Untersuchung ver- 
raten, ob diese vorgängige sexuelle Vollströmung in 
einem gegebenen Fall noch als verdrängt besteht 
oder ob sie bereits aufgezehrt ist. Um es noch schär- 
fer zu fassen: es steht fest, daß sie als Form und 
Möglichkeit noch vorhanden ist und jederzeit wieder 
durch Regression besetzt, aktiviert werden kann; 
es fragt sich nur und ist nicht immer zu entscheiden, 
welche Besetzung und Wirksamkeit sie gegenwärtig 
noch hat. Man muß sich hierbei gleichmäßig vor 
zwei Fehlerquellen in Acht nehmen, vor der Scylla 
der Unterschätzung des verdrängten Unbewußten, 
wie vor der Charybdis der Neigung, das Normale 
durchaus mit dem Maß des Pathologischen zu 
messen. 

Der Psychologie, welche die Tiefe des Verdräng- 
ten nicht durchdringen will oder kann, stellen sich die 
zärtlichen Gefühlsbindungen jedenfalls als Ausdruck 
von Strebungen dar, die nicht nach dem Sexuellen 
zielen, wenngleich sie aus solchen, die danach ge- 
strebt haben, hervorgegangen sind. 



•Die feindseligen Gefühle, um ein Stück komplizierter 
aufgebaut, machen hievon keine Ausnahme. 



XII. Nachträge 131 

Wir sind berechtigt zu sagen, sie sind von die- 
sen sexuellen Zielen abgelenkt worden, wenngleich 
es seine Schwierigkeiten hat, in der Darstellung einer 
solchen Zielablenkung den Anforderungen der 
Metapsychologie zu entsprechen. Übrigens halten 
diese zielgehemmten Triebe immer noch einige der 
ursprüngUchen Sexualziele fest; auch der zärtlich 
Anhängliche, auch der Freund, der Verehrer sucht 
die körperliche Nähe und den Anblick der nur mehr 
im „paulini sehen" Sinne geliebten Person. 
Wenn wir es wollen, können wir in dieser Zielablen- 
kung einen Beginn von Sublimierung der 
Sexualtriebe anerkennen oder aber die Grenze für 
letztere noch ferner stecken. Die zielgehemmten 
Sexualtriebe haben vor den ungehemmten einen 
großen funktionellen Vorteil. Da sie einer eigentlich 
vollen Befriedigung nicht fähig sind, eignen sie sich 
besonders dazu, dauernde Bindungen zu schaffen, 
während die direkt sexuellen jedesmal durch die Be- 
friedigung ihrer Energie verlustig werden und auf 
Erneuerung durch Wiederanhäufung der sexuellen 
Libido warten müssen, wobei inzwischen das Objekt 
gewechselt werden kann. Die gehemmten Triebe 
sind jedes Maßes von Vermengung mit den unge- 
hemmten fähig, können sich in sie rückverwandeln. 



i 



132 Ma5seinp$yohok)gie und Ich-Analyse 

wie sie aus ihnen hervorgegangen sind. Es ist be- 
kannt, wie leicht sich aus Gefühlsbeziehungen 
freundschaftlicher Art, auf Anerkennung und Be- 
wunderung gegründet, erotische Wünsche ent- 
wickeln (das M o 1 i 6 r e'sche: Embrassez-moi pour 
Tamour du Grec), zwischen Meister und Schülerin, 
Künstler und entzückter Zuhörerin, zumal bei 
Frauen. Ja die Entstehung solcher zuerst absichts- 
loser Oefühlsbindungen gibt direkt einen viel began- 
genen Weg zur sexuellen Objektwahl. In der „Fröm- 
migkeit des Grafen von Zinzendorf" hat Pfister ein 
überdeutliches, gewiß nicht vereinzeltes Beispiel da- 
für aufgezeigt, wie nahe es liegt, daß auch intensive 
religiöse Bindung in brünstige sexuelle Erregung 
zurückschlägt. Anderseits ist auch die Umwand- 
lung direkter, an sich kurzlebiger, sexueller Strebun- 
gen in dauernde, bloß zärthche Bindung etwas sehr 
gewöhnliches und die Konsolidierung einer aus ver- 
liebter Leidenschaft geschlossenen Ehe beruht zu 
einem großen Teil auf diesem Vorgang. 

Es wird uns natürlich nicht verwundem zu 
hören, daß die •zielgehemmten Sexualstrebungen 
sich aus den direkt sexuellen dann ergeben, wenn 
sich der Erreichung der Sexualziele innere oder 
äußere Hindernisse entgegenstellen. Die Verdrän- 



XII. Nacfaträse 133 

gung der Latenzzeit ist ein solches inneres — oder 
besser innerlich gewordenes — Hindernis. Vom 
Vater der Urhorde haben wir angenommen, daß er 
durch seine sexuelle Intoleranz alle Söhne zur Absti- 
nenz nötigt und sie so in zielgehemmte Bindungen 
drängt, während er selbst sich freien Sexualgenuß 
vorbehält und somit ungebunden bleibt. Alle Bin- 
dungen, auf denen die Masse beruht, sind von der 
Art der zielgehemmten Triebe. Damit aber haben 
wir uns der Erörterung eines neuen Themas genä- 
hert, welches die Beziehung der direkten Sexual- 
triebe zur Massenbildung behandelt. 

Wir sind bereits durch die beiden letzten Be- 
merkungen darauf vorbereitet zu finden, daß die 
direkten Sexualstrebungen der Massenbildung un- 
günstig sind. Es hat zwar auch in der Entwicklungs- 
geschichte der Familie Massenbeziehungen der 
sexuellen Liebe gegeben (die Gruppenehe), aber je 
bedeutungsvoller die Geschlechtsliebe für das Ich 
wurde, je mehr Verliebtheit sie entwickelte, desto 
eindringlicher forderte sie die Einschränkung auf 
zwei Personen — una cum uno — , die durch die 
Natur des Genitalziels vorgezeichnet ist. Die polyga- 
men Neigungen wurden darauf angewiesen, sich im 
Nacheinander des Objektwechsels zu befriedigen. 



134 Massenpsyöholosle und Ich-Analyse 

Die beiden zum Zweck der Sexualbefriedigung auf- 
einander angewiesenen Personen demonstrieren gegen 
den Herdentrieb, das Massengefühl, indem sie die Einsam- 
keit aufsuchen. Je verUebter sie sind, desto vollkommener 
genügen sie einander. Die Ablehnung des Einflusses der 
Masse äußert sich als Schamgefühl. Die äußerst heftigen 
Gefühlsregungen der Eifersucht werden aufgeboten, um 
die sexuelle Objektwahl gegen die Beeinträchtigung durch 
eine Massenbindung zu schützen. Nur, wenn der zärtliche, 
also persönliche, Faktor der Liebesbeziehimg völlig hinter 
dem sinnlichen zurücktritt, wird der Liebesverkehr eines 
Paares in Gegenwart anderer oder gleichzeitige Sexual- 
akte innerhalb einer Gruppe wie bei der Orgie möglich. 
Damit ist aber eine Regression zu einem frühen Zustand 
der Geschlechtsbeziehungen gegeben, in dem die Ver- 
Uebtheit noch keine Rolle spielte, die Sexualobjekte ein- 
ander gleichwertig erachtet wurden, etwa im Sinne von 
dem bösen Wort BernardSha w's : Verliebtsein heiße, 
den Unterschied zwischen einem Weib und einem anderen 
ungebührlich überschätzen. 

Es sind reichlich Anzeichen dafür vorhanden, daß 
die Verliebtheit erst spät in die Sexualbeziehungen zwi- 
schen Mann und Weib Eingang fand, so daß auch die 
Gegnerschaft zwischen Geschlechtsliebe und Massen- 
bindung eine spät entwickelte ist. Nun kann es den An- 
schein haben, als ob diese Annahme unverträglich mit 
unserem Mythus von der Urfamilie wäre. Die Brüder- 
schar soll doch durch die Liebe zu den Müttern und 
Schwestern zum Vatermord getrieben worden sein, und 
es ist schwer, sich diese Liebe anders denn als eine un- 
gebrochene, primitive, d. h. als innige Vereinigung von 
zärtlicher und sinnUcher vorzustellen. Allein bei weiterer 
Überlegung löst sich dieser Einwand in eine Bestätigung 



XII. Naditräs« 135 

auf. Eine der Reaktionen auf den Vatermord war doch 
die Einrichtung der totemistischen Exogamie, das Verbot 
jeder sexuellen Beziehung mit den von Kindheit an zärt- 
lich geliebten Frauen der Familie. Damit war der Keil 
zwischen die zärtlichen und sinnlichen Regungen des 
Mannes eingetrieben, der heute noch in seinem Liebes- 
leben festsitzt *. Infolge dieser Exogamie mußten sich die 
sinnlichen Bedürfnisse der Männer mit fremden und un- 
geliebten Frauen begnügen. 

In den großen künstlichen Massen, Kirche und 
Heer, ist für das Weib als Sexualobjekt kein Platz. 
Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Weib 
bleibt außerhalb dieser Organisationen. Auch wo 
sich Massen bilden, die aus Männern und Weibern 
gemischt sind, spielt der Oeschlechtsunterschied 
keine Rolle. Es hat kaum einen Sinn zu fragen, ob 
die Libido, welche die Massen zusammenhält, homo- 
sexueller oder heterosexueller Natur ist, denn sie l 
ist nicht nach den Geschlechtern differenziert und 
sieht insbesondere von den Zielen der Genitalorga- 
nisation der Libido völlig ab. 

Die direkten Sexualstrebungen erhalten auch 
für das sonst in der Masse aufgehende Einzelwesen 
ein Stück individueller Betätigung. Wo sie überstark 



* S. über die allsemeinste ErniedTigun's: des Llebeslebens, 1912, 
Sammlung kUelner Schriften zur Neurosenlelire. 4. Folge. 



136 Massenpsychologie und Ich-Analyse 

werden, zersetzen sie jede Massenbildung. Die 
katholische Kirche hatte die besten Motive, ihren 
Gläubigen die Ehelosigkeit zu empfehlen und ihren 
Priestern das Zölibat aufzuerlegen, aber die Ver- 
liebtheit hat oft auch Geistliche zum Austritt aus der 
Kirche getrieben. In gleicher Weise durchbricht die 
Liebe zum Weibe die Massenbindungen der Rasse, 
der nationalen Absonderung und der sozialen Klas- 
senordnung und vollbringt damit kulturell wichtige 
Leistungen. Es scheint gesichert, daß sich die homo- 
sexuelle Liebe mit den Massenbindungen weit besser 
verträgt, auch wo sie als ungehemmte Sexualstre- 
bung auftritt; eine merkwürdige Tatsache, deren 
Aufklärung weit führen dürfte. 

Die psychoanalytische Untersuchung der 
Psychoneurosen hat uns gelehrt, daß deren Sym- 
ptome von verdrän gten, aber akt iv gebliebenen 
direkten Sexualstrebungen^ abzuleiten sind. Man 
kann diese Formel vervollständigen, wenn man hin- 
zufügt: oder von solchen zielgehemmten, bei denen 
die Hemmung nicht durchgehends gelungen ist oder 
einer Rückkehr zum verdrängten Sexualziel den 
Platz geräumt hat. Diesem Verhältnis entspricht, daß 
die Neurose asozial macht, den von ihr Betrof- 
fenen aus den habituellen Massenbildungen heraus- 



r 



XII. Naditräse 137 

hebt. Man kann sagen, die Neurose wirkt in ähn- 
licher Weise zersetzend auf die Masse wie die Ver- 
liebtheit. Dafür kann man sehen, daß dort, wo ein 
kräftiger Anstoß zur Massenbildung erfolgt ist, die 
Neurosen zurücktreten und wenigstens für eine Zeit- 
lang schwinden können. Man hat auch mit Recht 
versucht, diesen Widerstreit von Neurose und 
Massenbildung therapeutisch zu verwerten. Auch 
wer das Schwinden der religiösen Illusionen in der 
heutigen Kulturwelt nicht bedauert, wird zuge- 
stehen, daß sie den durch sie Gebundenen den 
stärksten Schutz gegen die Gefahr der Neurose 
boten, so lange sie selbst noch in Kraft waren. Es 
ist auch nicht schwer, in all den Bindungen an 
mystisch - religiöse oder philosophisch - mystische 
Sekten und Gemeinschaften den Ausdruck von 
SchiefheÜungen mannigfaltiger Neurosen zu erken- 
nen. Das alles hängt mit dem Gegensatz der direkten 
und der zielgehemmten Sexualstrebungen zusammen. 
Sich selbs^ überlassen ist der Neurotiker ge- 
nötigt, sich die großen Massenbildungen, von denen 
er ausgeschlossen ist, durch seine Symptombildun- 
gen zu ersetzen. Er schafft sich seine eigene Phanta- 
siewelt, seine Religion, sein Wahnsystem und wie- 
derholt so die Institutionen der Menschheit in einer 



138 Massenpsyohologie und Idi-iAnalyse 

Verzerrung, welche deutlich den übermächtigen 
Beitrag der direkten Sexualstrebungen bezeugt *. 

E. Fügen wir zum Schluß eine vergleichende 
Würdigung der Zustände, die uns beschäftigt haben, 
vom Standpunkt der Libidotheorie an, der Verliebt- 
heit, Hypnose, Massenbildung und der Neurose. 

Die Verliebtheit beruht auf dem gleich- 
zeitigen Vorhandensein von direkten und von ziel- 
gehemmten Sexualstrebungen, wobei das Objekt 
einen Teil der narzistischen Ichlibido auf sich zieht. 
Sie hat nur Raum für das Ich und das Objekt. 

Die Hypnose teilt mit der Verliebtheit die 
Einschränkung auf diese beiden Personen, aber sie 
beruht durchaus auf zielgehemmten Sexualstrebun- 
gen und setzt das Objekt an die Stelle des Ichideals. 

Die Masse vervielfältigt diesen Vorgang, sie 
stimmt mit der Hypnose in der Natur der sie zusam- 
menhaltenden Triebe und in der Ersetzung des Ich- 
ideals durch das Objekt überein, aber sie fügt die 
Identifizierung mit anderen Individuen hinzu, die 
vielleicht ursprünglich durch die gleiche Beziehung 
zum Objekt ermöglicht wurde. 

Beide Zustände, Hypnose wie Massenbildung, 



♦ S. Totem und Tabu, zu Ende des Abschnitts II: Das Tabu 
«nd die Ambivalenz. 



XII. Nacfaträse 139 

sind Erbniederschläge aus der Phylogenese der 
menschlichen Libido, die Hypnose als Disposition, 
die Masse überdies als direktes Überbleibsel. Die 
Ersetzung der direkten Sexualstrebungen durch die 
zielgehemmten befördert bei beiden die Sonderung 
von Ich und Ichideal, zu der bei der Verliebtheit 
schon ein Anfang gemacht ist. 

Die Neurose tritt aus dieser Reihe heraus. 
Auch sie beruht auf einer Eigentümüchkeit der 
menschlichen Libidoentwicklung, auf dem durch die 
Latenzzeit unterbrochenen, doppelten Ansatz der 
direkten Sexualfunktion. (S. Sexualtheorie, 4. Aufl., 
1920, S. 96.) 

Insoferne teilt sie mit Hypnose und Massen- 
bildung den Charakter einer Regression, welcher der 
Verliebtheit abgeht. Sie tritt überall dort auf, wo der 
Fortschritt von direkten zu zielgehemmten Sexual- 
trieben nicht voll geglückt ist, und entspricht einem 
Konflikt zwischen den ins Ich aufgenommenen 
Trieben, welche eine solche Entwicklung durch- 
gemacht haben, und den Anteilen derselben Triebe, 
welche vom verdrängten Unbewußten her — eben- 
so wie andere völlig verdrängte Triebregungen — 
nach ihrer direkten Befriedigung streben. Sie ist 
inhaltlich ungemein reichhaltig, da sie alle möglichen 



140 Massenpsydiologie und Idi^Atialyse 

Beziehungen zwischen Ich und Objekt umfaßt, so- 
wohl die, in denen das Objekt beibehalten als auch 
andere, in denen es aufgegeben oder im Ich selbst 
aufgerichtet ist, aber ebenso die Konfliktbeziehungen 
zwischen dem Ich und seinem Ichideal. 



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